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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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musste sie sich, während sie auf einem Bein in der sogenannten Kranichstellung verharrte, mit einer Hand an einem Mülleimer festhalten, den sie von der Seite einer nahe gelegenen Parkbank mühsam auf die Wiese gezerrt hatte. Mit der anderen Hand wedelte Mutti träge herum, als wolle sie ganz langsam eine imaginäre Scheibe putzen oder antriebsarme Insekten verscheuchen. Das rituelle Ommmm , das sie würdevoll summen sollte, verwandelte sich angesichts ihrer generellen Anspannung, Kurzatmigkeit und (Gleich)Gewichtsproblematik in ein ziemlich erbärmliches und unmelodisch gekeuchtes Ömmmmpf.
    Da stand sie also, meine wuchtbrummige Mutter, in ihrem orangefarbenen Batikkleid, mit den langen, hennaroten Haaren, in die sie sich feine Zöpfe und Perlenfäden geflochten hatte, mit ihren selbstgefertigten Ohrringen und den indischen Stoffschuhen – und klappte fast zusammen, als ich sie ohne Vorwarnung mit der ersten Wehe überraschte.
    Es war sieben Uhr morgens. Der Stadtpark war menschenleer. Niemand war in Sicht, der ihr in dieser prekären Situation zur Seite stehen konnte. Meine Mutter war klug genug, sich in ihrem Zustand nicht hinter das Lenkrad ihres klapprigen VW-Busses setzen zu wollen, der noch dazu ziemlich weit entfernt auf einem Parkplatz stand und, nebenbei bemerkt, die handgemalte Aufschrift Traumwolke – Der Laden für Schmuck, Tee und Klamotten trug. Sie setzte sich stattdessen mit stampfenden, schwankenden Schritten in Bewegung. Ihre riesigen Ohrringe und die kleinen Glöckchen an ihrer Fußkette bimmelten und klimperten, während sie zum Planetarium stampfte. Hinter der Sternwarte war die nächstgelegene Straße. Und auf dieser Straße würde sie sicher jemanden finden, der ihr half.
    Der Weg dorthin erschien meiner Mutter wie die Besteigung eines Mittelgebirgszuges. Immer wieder musste sie innehalten, sich an einem Baum oder einem Laternenpfahl abstützen und die internen Schläge und Stöße, die ich ihr verpasste, aushalten, ohne zusammenzubrechen. Als Mama nach einer Viertelstunde endlich die Hindenburgstraße erreichte, lief ihr das Fruchtwasser am Bein hinunter. Vor ihr brauste, im krassen Gegensatz zur meditativen Einsamkeit des Stadtparks, eine lange und laute Autokarawane vorbei. Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Das war die Rettung!
    Oder auch nicht.
    Als meine Mutter brüllend aus dem Gebüsch auf die Straße stampfte wie eine wuchtige Naturgewalt, muss das ein wenig ausgesehen haben wie das Kino-Monster Godzilla, wenn es massig und tobend auf der Hügelkette über Tokio auftaucht, bereit, die ganze Stadt in Schutt und Asche zu legen.
    »Ich bin schwanger!«, schrie meine Mutter den vorbeibrausenden Autos zu. »Ich bekomme ein Kind!«
    *
    Auf dem Weg zur Entbindungsklinik, erzählten mir meine Eltern, wären wir alle beinahe gestorben. Eine dicke, laut brüllende und offenbar verrückte Frau in einem bizarr bunten Kleid war plötzlich aus dem Dickicht neben der Straße hervorgebrochen und hatte sich direkt vor die Autos zu stürzen gedroht.
    »Halt!«, schrie meine Mutter laut. »Um Himmels willen, Peter! Bremsen!« Doch mein Vater gab stattdessen Gas und zischte so schnell an der Frau vorbei, dass meine Mutter kaum ihr Gesicht erkennen konnte. Mit seinen stählernen Nerven und seiner nüchternen Einschätzung der Situation hat mein Vater damals vermutlich einen tödlichen Auffahrunfall verhindert, in den nach dem Dominoprinzip locker ein Dutzend Wagen hätte verwickelt werden können. Das war typisch für ihn. Mein Vater verlor nie den Überblick, reagierte immer richtig und wusste stets, was zu tun ist. Er war der präziseste und logischste Mensch der Welt. Von ihm habe ich meine fast schon manische Pünktlichkeit geerbt. Und meine erbarmungslose Logik.
    Als mein Papi damals erfuhr, dass seine Frau schwanger war, hatte er sich natürlich zuerst einmal gefreut. Dann aber machte er sich unverzüglich daran, alles zu organisieren. Meine Mutter bekam bereits in der achten Schwangerschaftswoche eine von ihm sorgfältig ausgearbeitete Tabelle überreicht, in der jeweils links die Prämisse stand und rechts die logische Schlussfolgerung daraus. In Zeile 7 stand zum Beispiel: Ich leide unter Sodbrennen und/oder Durchfall. Rechts hatte er die konsequent daraus resultierende Handlung aufgeführt: Weniger Gewürze, keine Schokolade.
    Als mein Vater viele Jahre später seinen ersten Computer kaufte und zum ersten Mal die tabellarischen Wunder des Excel-Programms zu Gesicht bekam, war das vermutlich

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