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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
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19. September 2009
    Hallo, Du!
    Ich habe keine Ahnung, wer Du bist – aber ich weiß, dass es Dich gibt. Irgendwo da draußen bist Du. Ich schreibe Dir, weil ich nicht weiß, an wen sonst ich diesen Brief richten könnte. Ich weiß nur, dass er unbedingt geschrieben werden muss.
    Ich vermute, er wird ziemlich lang werden, dieser Brief. Ich habe einiges zu erklären. Oder nein – das ist falsch. Ich kann gar nichts erklären, weil ich nämlich gar nichts verstanden habe. Das ist ja mein Problem.
    Genau genommen geht’s darum in diesem Brief: um das Verstehenwollen. Ich will verstehen, warum ich mit meinen fast vierzig Jahren da bin, wo ich gerade bin, und die Dinge so laufen, wie sie laufen. Sie laufen übrigens nicht mal ansatzweise so, wie ich es gerne hätte.
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diesen Brief zu spät schreibe. Dass ich schon viel früher über mein Leben hätte nachdenken müssen. Aber ich bin ja oft zu spät. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich eigentlich niemals pünktlich. Aber ich kann nichts dafür: Für meine innere Uhr gibt es einfach keine passende Batterie. Und wenn es doch eine geben sollte, dann wird sie heimtückischerweise von irgendjemandem vor mir versteckt. Ich bin nie dann dort, wo ich wann eigentlich sein sollte.
    Ich verrate Dir ein Geheimnis. Du wirst es vielleicht für typisch weibliches Gefasel halten, für östrogenen Unfug. Aber ich meine es absolut ernst: Die Tatsache, dass die Zeit und ich auf Kriegsfuß stehen, dass ich ständig etwas zu verpassen scheine und ich mein Dasein vom ersten Tag an auf einem verschlungenen und holprigen Trampelpfad durchschreiten musste, anstatt den Luxus eines geradlinigen, sorgfältig asphaltierten und gut ausgeschilderten Lebensweges genießen zu dürfen, ist kein Zufall. Es ist Schicksal! Ja, genau: das große, gruselige S-Wort!
    Vielleicht glaubst Du nicht an so etwas. An Dinge, die größer sind als wir und die wir niemals verstehen werden. An Mächte, die uns lenken und formen. Aber ich weiß, dass es so etwas gibt! Mein Schicksal hat vom ersten Tag an enorme Energie darauf verwandt, mich von etwas oder jemandem abzulenken. Ich spüre es tief in meinem Innersten: Fast vierzig Jahre lang bin ich von einer verpassten Chance zur nächsten gestolpert. Irgendetwas Großes, Mächtiges und Wunderbares wurde mir bislang von der Vorsehung böswillig vorenthalten. Es ist, als ob ich durch eines dieser vermaledeiten Spiegelkabinette auf dem Rummelplatz irre, immer wieder gegen eine heimtückisch polierte Scheibe stoße, mich von den glänzenden Spiegelflächen auf falsche Fährten leiten lasse, im Kreis laufe und permanent die falsche Abzweigung nehme. Ich komme nirgendwo an und sehe immer bloß mich selbst – orientierungslos und stetig alternd. Dabei weiß ich ganz genau: Irgendwo geht’s raus aus diesem ersten Raum meines Lebens, in dem ich mich schon viel zu lange aufhalte. Irgendwo geht’s weiter. Muss ja.
    Ich habe beschlossen, Dir meine ganze Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, mein Leben wird Dich nicht allzu sehr verwirren, obwohl es zweifelsohne einige Ungereimtheiten und Widersprüche aufzuweisen hat. Und das sogar gleich schon zu Beginn.

Kapitel 1
    1970
    I ch kam zu früh. Drei Wochen zu früh, um genau zu sein. Unerklärlicherweise und völlig meinem Charakter widersprechend verspürte ich im spätfötalen Stadium das unbändige Bedürfnis, nicht länger warten oder trödeln zu wollen, sondern endlich geboren zu werden.
    Meine Mama befand sich gerade im Hamburger Stadtpark, als ich meine erste energische Attacke in Richtung Geburtskanal startete. Sie stand auf der Wiese nahe dem Planetarium und machte Tai-Chi. Schattenboxen. Heute macht das jede fünfte Hausfrau im Wohnzimmer, während dazu in der Glotze der Shoppingkanal flimmert, aber 1970 war das noch etwas sehr Exotisches. Mama versucht stets, sich mit dem Schöpfungskreislauf der Erde in Einklang zu bringen, und hatte in einem ihrer zahllosen spirituellen Bücher gelesen, dass das am besten zu bewerkstelligen sei, wenn man sich auf ein Bein stellte, im Zeitlupentempo die Arme schwenkte, als würde man eine Schildkröten-La-Ola vollführen, und dabei durch nur minimal geöffnete Lippen, mehr aus dem Bauch als aus der Lunge heraus, ein tantrisches Ommmm entweichen ließ. Und das alles bitte schön so naturnah und frischluftig wie möglich.
    Da Mama aber zu diesem Zeitpunkt einen Bauch mit sich herumschleppte, der in Form und Gewicht an einen VW-Käfer erinnerte,

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