Körper-Haft (German Edition)
Kehrwasser aussehen?
Wie sah ein echtes Kehrwasser aus? Ich dachte an unsere Rafting-Tour und hatte plötzlich diesen tosenden Wildwasserfluss vor Augen. Vor uns ragte wie der Buckel eines Wales ein dunkelgrauer Granitblock aus den tosenden Fluten hervor. Er lag direkt in der Hauptströmung, das Wasser schob sich weiß schäumend an diesem Walbuckel empor, um seitlich in einer Art Strudel auf beiden Seiten herunterzufließen.
»Hinter dem Buckel liegt ein Kehrwasser «, hörte ich unseren Guide schreien. »Wir fahren da jetzt rein, also paddelt was das Zeug hält!« Wir kämpften uns durch Wellenberge und aufsteigende Gischt, die von unserem Raft klatschend aufgeworfen wurde. »Wenn wir hinter dem Felsblock ins Kehrwasser fahren – gut festhalten!« Er steuerte das Raft in einem spitzen Winkel direkt hinter den Felsen. Wir hatten das Boot ordentlich beschleunigt, als wir hinter dem Walbuckel einfuhren. »Festhalten!« Dann riss es das Raft in einem gewaltigen Ruck herum, sodass es von einer Sekunde zur anderen mit der Spitze flussaufwärts zeigte. »Paddelt!«, schrie es wieder von hinten. »Hopp-Hopp, noch ein paar Schläge, dann haben wir es geschafft.«
Und tatsächlich: Ruhig schaukelnd lag das Raft hinter dem Felsblock. Die ganze Spannung war abgefallen, das Herz hämmerte noch immer wie verrückt und pumpte damit nur noch schneller die ausgestoßenen Endorphine durch den Körper, um ein grandioses Glücksgefühl zu erzeugen. Wir johlten wie verrückt, sodass uns die Angler am Ufer vermutlich für einen sturzbetrunkenen Kegelklub hielten, dessen Mitglieder sich erst ordentlich einen ansaufen mussten, um die Courage zu haben, ins Boot zu steigen.
Wir schrien, johlten und klopften uns auf die Schultern, an einer Stelle im Fluss, die so viel Ruhe und Kraft in einem in sich barg. Ein Yin und Yang mitten im Wildwasser! Im Nachhinein schämte ich mich für das Gegröle, es war diesem Punkt der Ruhe nicht angemessen, wir hatten ihn regelrecht entweiht. Mit nur wenigen, ruhigen aber gezielten Paddelschlägen hielt unser Guide das gesamte Raft ruhig im Kehrwasser . Vor uns lag der riesige Buckel des dunkelgrauen Granitfelsens, der durch die Nässe schon fast ölig aussah und an ein paar Stellen dunkelgrüne Bärte aus Algen hatte. Dies machte den Vergleich mit dem glänzenden Walbuckel nur noch plastischer. Das Wasser türmte sich aus unserer Sicht jetzt hinter dem Wal auf, um auf beiden Seiten gut einen Meter tiefer herunterzuschießen und tösend herumzuwirbeln. Beide Wirbel bildeten das Kehrwasser , in dem wir mit unserem Boot saßen. Das Wasser pulste in ungleichem Rhythmus hoch und runter. Es war kalt, klar, kraftvoll, laut und doch so unendlich beruhigend.
Ein elektrisches Kribbeln durchlief meine Körper und eine Frauenstimme forderte: »Bitte kreuzen Sie eine Antwort an!« Was für eine Antwort?
Über mir schwebten ein paar einfache Mathematikaufgaben, deren richtige Antworten mit dem Auge angeblinzelt werden mussten. Multiple Choice zum Blinzeln … Das elektrische Kribbeln verstärkte sich. » Das interaktive Mittagsprogramm ist nicht zum Träumen da Nr. 5 !« Ich blinzelte schnell ein paar Kreuzchen auf den Bildschirm. »Na also, so schwer war es doch gar nicht, oder?« Das interaktive Mittagsprogramm? Gerade eben hatte ich noch mit einem Raft im Kehrwasser gesessen und dem Fließen und Pulsen des Wassers zugeschaut. Und kurz davor hatte Bruder Martin mit seinem militanten Religionsunterricht angefangen …
So langsam ging mir ein Licht auf. Ich hatte nach einem Kehrwasser Ausschau gehalten, dass mich von Bruder Martin und seiner religiösen Gehirnwäsche ablenken sollte. Ich war auf der Suche nach einem Kehrwasser im Datenstrom der Beeinflussung gewesen, ohne zu wissen, wie es wohl aussehen mochte und wie ich es dann überhaupt finden und nutzen könnte! Dabei war das gesuchte Kehrwasser im Datenstrom bereits das Kehrwasser in meiner Vorstellung! Erneut zog ein elektrisches Kribbeln durch meinen Körper. »Sie überlegen zu lange für Ihre Antworten Nr. 5!«
Da war vielleicht wirklich was dran! Vielleicht ging ich das Ganze zu intellektuell an …
Müde war ich dennoch, die Erinnerung an das Kehrwasser so plastisch auferstehen zu lassen, hatte mich vermutlich doch mehr angestrengt, als ich dachte. Ich überlegte, ob ich die militanten Missionierungsversuche von Bruder Martin durch eine andere Religion ersetzten könnte, die ihre Inhalte friedvoller und ruhiger über mich
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