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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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hast hier gesessen, so wie ich jetzt, und dir die Haare gebürstet. Genau diese Haare, mit genau dieser Bürste. Du dachtest, du würdest dein Spiegelbild sehen. Dann hast du allmählich begriffen, dass es nicht so war. Was du nicht wusstest – was du nicht wissen konntest – war, dass ich schon viele Male vorher hier gewesen war.
    Damals als ich noch klein war, hat unsere Mutter mir gesagt, wie die Leute hießen, die dich adoptiert hatten. Ich hatte nie groß drüber nachgedacht, sondern einfach angenommen, dass dein Leben nicht viel anders war als meines. Doch als Mom dann weg war, habe ich angefangen, mir Gedanken über dich zu machen. Im Gegensatz zu dir war ich nicht adoptiert worden. Die Pflegefamilien, die mich aufgenommen haben, hatten eigene Kinder. Und die waren es, die ihnen am Herzen lagen, die waren es, die erben würden. Wenn es diese Kinder nicht gegeben hätte, dann hätte ich vielleicht eine Chance gehabt.
    Die Abbotts waren meine einzige echte Hoffnung. Sie hatten Geld, und sie waren bereit, mich zu adoptieren. Das Problem war, dass sie Kathy hatten. Die würde bei ihnen immer an erster Stelle stehen, auch wenn ich rechtlich zu ihrer Tochter wurde. Wenn alles so gelaufen wäre wie geplant, dann wäre ich ihre Alleinerbin gewesen.«
    Jetzt war das Lächeln verschwunden. Aus ihrer Stimme troff die Bitterkeit.
    Â»Sie hat leider noch lange genug gelebt, um sie alle gegen mich aufzubringen. Der Anwalt, den der Staat mir zugewiesen hat, war schlimmer, als gar keiner. Er hat mir erzählt, ich würde freigesprochen werden, wenn wir auf Unzurechnungsfähigkeit plädierten. Freispruch! Zum Totlachen! Die haben mich mit einem Haufen Irrer zusammen eingesperrt. Ich wusste, wo du warst. Kathy hat mal ein Buch von einem Autor namens James Stratton aus der Bücherei mitgebracht. Hinten auf dem Umschlag war ein Bild von ihm mit seiner Familie, und da stand, dass sie auf einer Insel vor der Küste New Englands lebten. Ich erkannte den Namen wieder und das schwarzhaarige Mädchen auf dem Foto sah genauso aus wie ich. Das konntest nur du sein. Du hattest alles. Und ich hatte nichts.
    Dann bin ich hergekommen und hab es gesehen … die Insel, das Haus, deine Eltern! Und ich wusste, ich würde alles tun, um an deiner Stelle zu sein.«
    Und dann bist du Laurie geworden. Und was wird aus mir? Wer bin ich denn dann?
    Es war gar nicht nötig, dass sie die Frage hörte.
    Â»Du hast nicht mehr Substanz als der Wind. Und mit der Zeit wirst du noch weiter schwinden. Die Kraft des Geistes speist sich aus dem Gehirn. Und um das am Leben zu halten, musst du den physischen Kontakt wahren. Das ist wie bei einer Taschenlampe mit Batteriebetrieb. Wenn die Batterien nicht wieder aufgeladen werden, was passiert dann?«
    Sie stand vom Bett auf und legte die Bürste wieder auf die Kommode. Dann drehte sie sich um und schlug die Bettdecke zurück. Ich hörte, wie sie das Kissen aufschüttelte.
    Â»Gute Nacht, Laurie«, sagte Lia leise. »Gute Nacht – und leb wohl.«

EINUNDZWANZIG
    LIA UNTERNAHM KEINEN WEITEREN Versuch, mit mir in Kontakt zu treten. Für sie schien der formelle Abschied so etwas wie die letzte Bestätigung meiner Existenz gewesen zu sein. Die Erklärung für ihr Vorgehen war ohne eine Entschuldigung abgegeben worden. In ihrer Vorstellung war ein Unrecht jetzt wiedergutgemacht, eine Ungerechtigkeit ausgeglichen worden.
    Lia hatte, was sie wollte. Ich durfte gehen. Aber wohin?
    Sollte ich sterben? Diese Option hatte sie nicht angeboten. Sie wollte mir nicht erlauben, mich – mit intakter Seele – die ultimative Reise über alle natürlichen Ziele hinaus antreten zu lassen. Stattdessen sollte ich verblassen, zu einem bloßen Hauch verstummen, bis …
    Diesen Satz konnte ich nicht vollenden. Bis was? War dieser Prozess endlos?
    Ich schottete meinen Geist ab. Ein Konzept von derartigen Dimensionen konnte ich nicht fassen, also griff ich verzweifelt nach Alternativen. Lias Körper lag verlassen da. Ich könnte ihn für mich beanspruchen. Aber welche Art lebenslängliche Strafe würde ich damit auf mich nehmen? Lias Jahre in einer Anstalt durchzumachen, konnte kaum schrecklicher sein, als völlig auf eine physische Identität zu verzichten.
    Vielleicht könnte ich reisen. Dazu brauchte ich nichts anderes zu tun, als mich an einen Ort zu denken, und schon wäre ich da. Ich hatte nie etwas anderes

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