Die Verfuehrung einer Fremden
1.
„Noch einen, bitte.“ Der Mann, der nun bereits seit mindestens zwei Stunden am Tresen der Bar „Blue Moon“ saß, in der ich als Kellnerin arbeitete, bestellte nun schon seinen sechsten Single-Malt-Whiskey. Er starrte durchgehend auf sein Glas, war wahrscheinlich sowieso schon zu betrunken, um noch viel von seiner Umwelt zu erkennen. Attraktiv war er, trotz seiner Trunkenheit, aber an seinem Kleidungsstil hatte ich schon beim Hereinkommen erkannt, dass er einer dieser Finanzsnobs aus der Wall Street war, die außer Geld, Arbeit und Frauen nicht viel im Kopf hatten. Sein schwarzer Anzug war verknittert, seine graue Krawatte hing unordentlich und schief an seinem Oberkörper herunter, das dunkle Haar war leicht zerzaust, wahrscheinlich, da er sich jede alle zwei Minuten mit der Hand über den Kopf fuhr. Den ganzen Abend hatte ich ihn nun schon beobachtet, diesen armen Tropf, für den ich trotzdem irgendwie kein Mitleid empfinden konnte. Wahrscheinlich hatte er sich heute um einige Tausend Euro verspekuliert und meinte nun, sich im Alkohol ertränken zu müssen. Warum er das ausgerechnet hier im „Blue Moon“ tat, war mir allerdings ein Rätsel.
Ich liebte das „Blue Moon“ mit seiner leicht heruntergekommenen Ausstattung aus Sofas im Stil der 70er Jahre, den bunten Hippie-Farben an den Wänden, dem langen Tresen und der Old School Rockmusik im New Yorker Stadtteil Williamsburg, Brooklyn. Aber ein Typ wie er hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Die gingen lieber in die Nobelbars und Schicki Micki Clubs in den teuersten Ecken Manhattans, wie dem Meatpacking District, East Village oder der Upper East Side, um hunderte oder gar tausende von Dollar für Getränke zu verschwenden, die in einer normalen Bar nicht mal ein Viertel davon kosteten. Mir war diese ganze High Society Gesellschaft immer ein Rätsel gewesen. Zwar verdiente ich als Kellnerin nicht viel- geschweige denn mit meinen Versuchen, mir als Indie-Designerin einen Namen zu machen- und lebte in einem kleinen Zimmer einer Wohngemeinschaft in Brooklyn, war aber glücklich. Ich hatte alles, was ich brauchte, ein Dach über dem Kopf, genug Nahrung, tolle Freunde, ein Leben in der aufregendsten Stadt der Welt und genug Zeit, dieses Leben auch zu genießen. Die Banker und Financiers Manhattans dagegen arbeiteten im Grunde ununterbrochen, um sich Dinge leisten zu können, die sie eigentlich nicht brauchten. Und für das Prestige natürlich. Die wenigen Male, die ich in meinen jungen 20ern in Nobelclubs gegangen war, hatte ich immer irgendeinen von diesen Finanzwelt-Typen kennengelernt, großkotzige Typen, die nur von ihrem Geld, ihrer Arbeit und wie toll sie sind, sprachen. Mich hatte das jedes Mal so abgestoßen, dass ich irgendwann beschlossen hatte, mich von dieser Welt fernzuhalten. Nun war ich 26 Jahre alt, ständig pleite und hätte nicht glücklicher sein können.
Ich hätte nicht glücklicher sein können, hätte sich nicht vor einer Woche mein Freund von mir getrennt. Matt und ich waren drei Jahre zusammen gewesen und ich liebte ihn über alles, hatte eigentlich gehofft, dass wir dieses Jahr zusammen ziehen würden. Ich war eine sehr unabhängige Frau, wollte aber mit Matt den Rest meines Lebens verbringen. Matt und ich hatten uns vor drei Jahren bei einer Gallerie-Eröffnung in Chelsea kennengelernt, er teilte mit mir seine Liebe zur Kunst, besonders zu moderner und abstrakter Kunst. Matts tiefgründige, introvertierte Persönlichkeit hatte mich vom ersten Moment an fasziniert und bereits nach wenigen Dates war mir klar, dass ich keinen anderen wollte. Die New Yorker Datingszene war hart und umkämpft, normalerweise dauerte es Monate, bis ein Mann und eine Frau einander „Exklusivität“ schworen, was in New York bedeutete, dass man ab nun eine monogame Beziehung führt. Bis dahin konnte man so viele andere Männer und Frauen daten, wie man wollte, sogar mit ihnen schlafen. Matt und ich dagegen hatten uns gleich am zweiten Tag gegenseitig wissen lassen, dass wir eine monogame Beziehung wollten. Das hatte unsere Beziehung irgendwie besonders gemacht. Und dass es nun aus war, verletzte und schockierte mich umso mehr. Er hatte mir eines regnerischen Morgens vor einer Woche mitgeteilt, dass er sich auf einmal seiner Gefühle für mich unsicher geworden war, dass er nicht wusste, ob er mich noch liebe. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, hatte ich doch geglaubt, unsere Beziehung sei nahezu perfekt. Nachdem ich zwei Tage lang meine Kissen
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