Komm
Fiktion?
Ist es Verleumdung, in einer Romanfigur eine Person der Wirklichkeit identifizierbar zu machen und dieser Romanfigur Charakteristika oder Handlungsabläufe zuzuschreiben, die nicht der Wahrheit entsprechen?
Er schlägt das Manuskript mittendrin auf, sucht nach etwas, ohne es zu finden. Ja, er weiß, sie hat ihm die Fotos nicht heute gezeigt. Er hat sie bei ihr zu Hause gesehen. Vor ungefähr drei Monaten. Sie hatte eine Einladung gegeben, weil einer ihrer Freunde, ein anderer Schriftsteller mit einer kleineren Wohnung, einen Preis erhalten hatte.
In einer Zeitung wäre es nicht erlaubt.
Nicht einmal in einer Illustrierten.
Fiktion ist nicht Wirklichkeit.
Ist es denn Fiktion?
Was, wenn die Frau im Buch Aids hätte, und die Frau in der Wirklichkeit wäre Petra Vinter?
XI
M an weiß immer, was wahr ist«, sagte Lula.
Sie redete von Salat.
Sie benutzte das Wort »wahr« für etwas Gutes, etwas nicht Verunreinigtes. Sie hatte ein merkwürdiges Vokabular, sie war in den Hochhäusern aufgewachsen. Im Westen der Stadt. Das sei seine andere Seite, sagte er und lachte, wenn sie Worte falsch aussprach. Sie lachte nicht, wenn er »morgen«, »nächste Woche«, »nächstes Jahr« sagte. Immer gab es einen Geburtstag, einen Feiertag, eine Wahl. Ein neues Buch. Es konnte nicht anders sein, das wusste sie ja. In seiner Position.
Vielleicht redete sie gar nicht von Salat.
Wie gesagt, sie wusste es ja.
Künstler müssen an ihre Kunst denken, ehe sie an andere Menschen denken , schreibt er.
Der Schnee segelt langsamer. Die Flocken sind größer geworden, spärlicher. Einzelnen folgt er mit den Augen, richtet den Blick wieder auf das Manuskript. Überfliegt einige Kapitel. Findet nicht, was er sucht, stolpert aber über etwas anderes. Es steht auf Seite dreihundertelf:
»Was andere einem antun, kann man überleben. Nicht, was man selber anderen antut. Als ich da sein sollte, war ich nicht da. Ich schlief. Er wurde mit Keulen erschlagen.«
Warum kommt ihm das bekannt vor?
Ich schlief. Er wurde mit Keulen totgeschlagen. Was andere einem antun, kann man überleben. Aber nicht, was man anderen antut.
Die Zeitungen. Er sucht ihren Namen. Achttausendsiebenhundertvierzehn Möglichkeiten. In der virtuellen Welt ist selbst ein mathematischer Dichter eine Berühmtheit. Er gibt andere Wörter ein. Noch fünf Seiten. Er nimmt den ersten Eintrag, einen Artikel, den sie geschrieben hat. Sechs Monate nach ihrer Rückkehr aus Morenzao.
Den Satz mit den Keulen findet er in dem Artikel nicht. Aber etwas anderes. Sie erwähnt es wie den Überfall, das ist alles. In dem Zusammenhang schreibt sie: »Ich schlief. Als ich da sein sollte, war ich nicht da. Was andere einem antun, kann man überleben. Nicht, was man selber anderen antut.«
Er erinnert sich an etwas anderes.
Es regnete, und er wandte sich vom Fenster ab. Er setzte sich an den Tisch und schenkte sich Portwein aus der offenen Flasche ein. Petra Vinter war dabei zu erzählen und fuhr fort, als hätte sie nicht bemerkt, dass er sich setzte:
»Ich dachte nicht, es würde etwas passieren. Ich war so erschöpft, ich musste nach Hause und mich schlafen legen. Sie sagten, sie hätten jemand anderen gefunden, ich könne nach Hause gehen, kein Problem. Ich wusste, dass es keinen anderen gab, der gut genug Portugiesisch sprach, dass schnell etwas schiefgehen konnte. Aber ich war zu müde. Sie sagten, sie würden mich über Funk rufen … Ich hätte die Stühle zusammenstellen und im Büro schlafen sollen. Das hatte ich schon öfter gemacht. Ich hatte wochenlang kaum ein Auge zugetan. Ich ging nach Hause und ins Bett und habe keinen Funk gehört. Ich schlief. Er wurde mit Keulen erschlagen.«
Sie hatte lange dagesessen und in die Luft gestarrt, dann sagte sie noch:
»Was andere einem antun, kann man überleben. Nicht, was man selber anderen antut.«
Das hörte sich alles so hochtrabend an, was sie da erzählte, dass er kaum hinhörte. Er bot den anderen, die die Flasche nicht zu beachten schienen, etwas Porto an, schenkte sich noch ein Glas ein und wechselte das Thema. Er erinnert sich nur deshalb daran, weil es so hochtrabend war. Obwohl »hochtrabend« es nicht ganz trifft. Selbstbeweihräuchernd auch nicht. Dramatisch, nein, allzu engagiert, allzu ernst, heilig, allzu irgendwas jedenfalls. Als hätte sie an einer Welt, einem Leben teil und wir nicht. Was für ein Unsinn! Als nähme sie das Leben ernster, irgendwie.
Ihr versteht nichts in
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