Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Helikopter. Ein Unglück, kaum beachtet und erwähnt. Tschernobyl: die Schlacht gegen die Hölle, um Europa zu retten.
Wiktor war dabei, er wurde nicht gefragt. Oder doch, pro forma, aber es gab nur eine Antwort. Er erhielt eine Urkunde und hundert Rubel für seine Heldentat und einen Tritt in den Arsch, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Seit Jahren ausgemustert, zieht er durchs Sperrgebiet, immer auf der Suche nach etwas Wertvollem, einem Schatz, der sein Leben verändern könnte. Er, der Liquidator, von den Folgen seiner Strahlenkrankheit geplagt. Hier einen Schatz zu entdecken, das wäre gerecht, findet Wiktor.
Sein alter Armeelastwagen stottert, dann bleibt er liegen. Mitten in der Zone. Einen Tagesmarsch vom nächsten Posten entfernt. Einen Tagesmarsch vom Schrottplatz bei Prypjat. Auf dem Schrottplatz gibt es höchstens die kleinen Schätze. Tausende verseuchter Lastwagen, Dutzende verseuchter Hubschrauber, Ersatzteilspender. Schnell ausgebaut, schnell verladen, hundert Hryvnia, schnell vorbei am Posten, schnell mit Wasser und einem Hochdruckreiniger dekontaminiert, schnell verkauft. So schlägt er sich durch.
Jetzt hat er eine Panne, steckt in der Zone fest und hofft auf einen Geisterfahrer, der wie er irgendetwas sucht, das außerhalb der Zone nicht zu finden ist.
Am Horizont erkennt Wiktor eine Veränderung. Ein Punkt bewegt sich über den gewellten Asphalt. Wird zum kleinen Strich in der Landschaft. Der Punkt kommt näher. Es ist ein Motorrad.
***
Luba ist diesen Sommer das dritte Jahr mit ihrer Ninja in der Zone unterwegs. Sie kommt immer wieder, mit dem Geigerzähler im Gepäck, mit vollem Tank und mit einem Reparaturset für eine Reifenpanne. Denn hier gibt es niemanden, der ihr helfen kann.
Sie liebt diese Strecke wegen der langen unbefahrenen Straßen. Kein Fahrzeug kommt ihr hier entgegen. Auf einer ihrer Fahrten ist ihr eine alte Frau auf einem Pferdegespann begegnet, einer der übrig gebliebenen oder wieder in die Zone zurückgekehrten Menschen. Es waren einmal dreitausend, die hier lebten, jetzt sind es nur noch vierhundert oder weniger. Ab und zu kreuzt ein Wolf oder Fuchs die Fahrbahn, ein Wildschwein oder Rotwild. Das Wild lebt und ernährt sich vom verstrahlten Boden und seinen Erträgen, so wie die Menschen. Der Boden hat die Strahlung aufgenommen, nicht jedoch der Asphalt. Man kann sich auf der Straße bewegen, am besten ohne ein vorausfahrendes Fahrzeug, das Staub aufwirbeln kann. Aber hier ist sonst niemand unterwegs.
Dabei gibt es Fahrzeuge in der Zone. Ganze Parkplätze voller roter Armeelaster, wie Spielzeugautos, achtlos zusammengeschoben von einem Jungen, der nicht aufräumen wollte vor dem Schlafengehen. Auch die weißen Hubschrauber sehen aus wie vergessenes Spielzeug, und doch ist alles echt. Und irgendwann vor vierundzwanzig Jahren sind sie noch geflogen und haben die Sandbehälter zum Löschen des Großen Brandes transportiert. Der Unfall war eine ökologische und wirtschaftliche Katastrophe für die gesamte Region. Er hätte es für ganz Europa werden können. Es hat nicht viel gefehlt.
Luba erkennt einen Armeelaster am Straßenrand und eine schwarze Gestalt auf dem Asphalt. Ein Mensch, er bewegt sich. Beim Näherkommen sieht sie, dass er mit den Armen fuchtelt. Was macht er da?
Es gibt so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz. Wie im Wilden Westen. Dass man keinen Menschen in der Wüste im Stich lässt. Nicht in Badwater, wo einen die Sonne und der über der Salzpfanne getrocknete Wind innerhalb von zwei Stunden austrocknen können, und nicht in den Wüsten Colorados oder in einer der Geisterstädte, in denen es nur vergiftetes Wasser und nichts zu essen gibt.
Dieser Kodex gilt auch in der Zone, und wie im Wilden Westen halten sich die Guten daran und die Bösen pfeifen darauf, wenn es sie um einen Vorteil bringt, und die ganz Üblen täuschen Hilfsbedürftigkeit vor, um sich einen Vorteil zu ergaunern.
Ihre Ninja wäre ein enormer Vorteil. Luba kämpft mit der Versuchung, Vollgas zu geben und darauf zu vertrauen, dass der Idiot, der ein paar hundert Meter vor ihr mitten auf der Straße steht und mit den Armen wedelt, zur Seite springt. Sie gibt kurz Gas. Er macht keine Anstalten, sich wegzubewegen. In letzter Sekunde bremst sie, stemmt sich mit aller Kraft gegen den Lenker und bringt die Maschine zum Stehen. Luba nimmt den Helm ab.
»Was gibt’s? Warum versperrst du mir den Weg?«
»Ich hab eine Panne, und du brauchst mich nicht so blöd anzumachen,
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