Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Prolog
N OVEMBER 2010
H EMMINGEN BEI H ANNOVER
Die Frau in dem schwarzen Golf spürte die klamme Kälte nicht. Ihre ganze Konzentration galt der Eingangstür in dem Haus gegenüber. Wenige Sekunden noch, dann würde die grelle Gartenbeleuchtung angeknipst werden und die korpulente Frau mit dem Gang einer Watschelente in der Haustür erscheinen. Das war jeden Abend so, immer um Viertel nach acht. Ihren übergewichtigen Dackel hinter sich herziehend würde sie den matschigen Fußweg Richtung Sportplatz einschlagen
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Der graue Nerzmantel der Frau wirkte zerschlissen. Der karierte Wollschal des Dackels sah dagegen neu aus. Als Frauchen und Hund aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, verließ sie ihr Auto und ging zum Nachbarhaus. Sie schaute sich um. Die Straße war menschenleer. Mit einem großen Schritt zur Seite wich sie dem Hundekot aus, eine unschöne Hinterlassenschaft des Dackels von nebenan. Das schiefe Holztor der Gartenpforte knarrte, es musste geölt werden. Das grelle Licht der Straßenlaterne war zu weit entfernt, um das Grundstück zu beleuchten, das sie in diesem Moment betrat
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Im Vorgarten bot der mannshohe, sperrige Wacholderbusch Schutz. Mit einem Griff in die rechte Manteltasche vergewisserte sie sich. Die Sauer Backup fühlte sich eisig kalt an. Der Klingelton ihres Handys ließ sie zusammenzucken. Sie drückte ihre Mutter weg. Auch ohne sich zu vergewissern, wusste sie, wer es war. Niemand sonst rief sie an. Sie wollte keine Kontakte, hatte genug mit sich selbst und den nächtlichen Besuchern zu tun
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Inzwischen war fast eine Stunde vergangen und die mollige Nachbarin nebst übergewichtigem Dackel längst wieder in ihrem sicherlich wohlig warmen Haus verschwunden. Die Gartenbeleuchtung hatte die Alte ausgeschaltet. Totale Dunkelheit umhüllte sie. Der Ostwind trieb ihr Tränen in die Augen. Seit Tagen piesackte das Sturmtief Susanne die Bürger der niedersächsischen Tiefebene. Vielleicht hätte sie besser im Auto auf ihn warten sollen. Dann endlich, ihre Füße fühlten sich wie Eisklumpen an und ihre Hände waren trotz der Handschuhe verfroren, kam er die Straße entlanggeschlurft. In Gedanken versunken, die Aktentasche prall gefüllt, betrat er das Grundstück und knipste das Licht an der Gartenpforte an
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Haus und Garten wirkten vernachlässigt. Den Hausbesitzer schien es nicht zu stören, er lebte für seine Arbeit. Auch die Abende verbrachte er fast immer am Schreibtisch. Dass er seit Wochen beobachtet wurde, hatte er nicht bemerkt. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass die Arbeit, die er mit nach Hause gebracht hatte, niemals beendet werden würde. Jedenfalls nicht von ihm. Während er den Schlüssel in die Haustür steckte, trat sie leise hinter dem Busch hervor
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Er zuckte zusammen, als er die Pistole in seinem Rücken spürte. Ihre Stimme klang fest. „Kein Wort, sonst knall ich dich ab.“ Er stammelte ihren Namen. Fragend und dennoch in dem Wissen, dass keine Antwort kommen würde. Sie konnte die Angst förmlich riechen. Ein merkwürdiges Gemisch aus Schweiß und Urin. Er ahnte, was ihm bevorstand. Ihm, dem hochmütigen, kaltschnäuzigen Spitzenbeamten, dem niemand etwas anhaben konnte. So hatte er es zumindest geglaubt. Bis zu diesem Moment. Sie folgte ihm ins Haus, das er zum letzten Mal in seinem Leben betreten sollte
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1
H ANNOVER
Gewaltverbrecher zur Strecke zu bringen, darin war Verena Hauser richtig gut. Selbst ihre größten Neider beim Landeskriminalamt, kurz LKA genannt, stellten das nicht in Abrede. Wenn es allerdings darum ging, den inneren Schweinehund zu überwinden, sah die Sache anders aus. Auch heute wieder. Bis Weihnachten keinen Tropfen Alkohol mehr, hatte sie sich ganz fest vorgenommen. Als sie den Vorsatz gefasst hatte, war das Wetter allerdings nicht annähernd so scheußlich wie an diesem Novemberabend. Sturm und Kälte, eine ungemütliche Mischung. Besonders wenn es niemanden gab, mit dem man kuscheln konnte.
Widerstrebend ging sie zum Wandschrank, in dem die Minibar eingebaut war. Wie zufällig streifte ihr Blick den schmalen Wandspiegel. Die kleinen Falten um die Augen und die Mundwinkel herum waren in den letzten Wochen tiefer geworden, eine unschöne Folge von Überstunden in stickiger Büroluft. Sie sah keinen Tag jünger aus als vierzig. Wenige Monate noch, dann war es so weit. Sie würde ihren Geburtstag nicht feiern. Seitdem ihre Beziehung mit Franz gescheitert war, gab es wenig Grund zum Feiern in ihrem Leben. Franz hätte eine Riesenfete für
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