Konny Reimann
Ich liebte das Wasser, ich liebte die Flüsse und das Meer. Die täglichen zwanzig Kilometer waren für uns schnell ein normales Pensum. Oft stand ich schon um vier Uhr früh auf und lief zum Fischmarkt, wollte gucken, wo man Enten und Hühner kaufen konnte. Nicht, dass ich jemals selbst etwas erstanden hätte, aber das Gefühl, dabei zu sein, dort zu sein, wo das Federvieh den Besitzer wechselte, wo die Schiffe vorbeifuhren, wo etwas los war, das alles brachte täglich kleine Abenteuer, die durch nichts zu ersetzen waren. In den Sommerferien waren wir Kinder praktisch sechs Wochen ununterbrochen im Wasser. Schlauchboottouren, schwimmen gehen, am Wasser entlanglaufen und spielen, reinspringen: unsere ganz persönliche kleine Welt aus Wellen und Wind. Hier wehte immerhin ein wenig vom Geruch der großen Welt, von der wir natürlich noch nicht sehr viel ahnten, die man hier aber schon förmlich schmecken konnte.
Mein „Zimmer“ zu Hause war das komplette Gegenteil von diesem Freiluftabenteuer ohne Grenzen. Ich lebte in einer Art Speisekammer, in der gerade eben ein Bett ganz hineinpasste und damit ebenso knapp der, der darin zu liegen hatte. Das Zimmer war etwa 2,20 Meter lang und 80 cm breit. Aber es war meins. Das war alles, was für mich zählte. Erstaunlich, dass außer dem Bett noch irgendwo ein 80-Liter-Aquarium hineinpasste. Obwohl ich schon nicht der Größte war, musste ich, wenn ich seitlich auf meinem Bett saß, also mit den Füßen auf dem Boden, immer etwas die Beine anziehen, ausstrecken war nicht möglich. Die Wand beendete jedes Minimum an Gemütlichkeit. Hier kam mir mein Körper etwas entgegen, denn wäre ich ein angehender Basketballer gewesen, hätte ich auf meinem Bett gesessen wie ein Harlem Globetrotter in einem Trabbi. Aber ich war klein (und bin es noch). Doch schon in jungen Jahren kompensierte ich das durch Kraft.
Ich war so klein und so kräftig, dass ich einmal in der Schule sogar hochspringen musste, um einem älteren Mitschüler, der mich traktiert hatte, einen Kinnhaken zu geben. An eine weitere derartige Begebenheit kann ich mich aber nicht erinnern, denn es sprach sich schnell herum, dass ich der falsche Ansprechpartner für Schlägereien jeglicher Art war. Die Chancen, gegen mich einen glorreichen Sieg davonzutragen, standen nicht besonders gut, ganz egal, wer antrat.
Ganz abgesehen davon, war schon damals Prügeln nichts für mich. Meine Gegner haben mir immer viel zu leid getan, wie überhaupt die Verlierer solcher Kämpfe. Ich sah keinen Sinn darin, jemanden körperlich zu demütigen, viel lieber hatte ich Spaß mit anderen Kindern. Ernste Kämpfe waren nicht meine Sache.
Dennoch habe ich früh gelernt, dass man Rückgrat zeigen muss, sich „gerademachen“ muss, wenn es notwendig ist. Allerdings weniger, um jemanden zu Boden zu schicken, als vielmehr, um Haltung zu zeigen, dem Gegenüber zu verstehen zu geben, was die eigene Meinung ist. Vor einigen Jahren wurde mein Sohn Jason in Schenefeld in der Schule von einem notorischen Schlägertyp verprügelt, der auch schon viele andere Kinder angegangen war und belästigt hatte. Der Junge trieb eine Weile sein Unwesen, und niemand schien sich darum zu kümmern oder auch nur das Geringste dagegen zu unternehmen. Ich war bei all den vielen Eltern der Einzige, der bei einem Elternabend aufstand und sagte: „So geht es nicht, wir müssen auf dieses Kind aufpassen.“ Andere Eltern schlossen sich meiner Meinung an, und so machten wir das dann – wir kamen selbst zur Schule und behielten den Störenfried im Auge. Mehr war gar nicht nötig, und nach einer Weile hatte sich das Problem erledigt. Man muss für seine Prinzipien einstehen und auch den Mund aufmachen können. Wenn mir etwas nicht passt, sage ich das. Es nützt nichts, sich aus Angst, Scham oder um des lieben Friedens willen zurückzuhalten. Meinung auf den Tisch, basta, aus. Auch wenn das manchmal unangenehme Konsequenzen nach sich zieht. Ich stand damals an jenem Abend auf und zeigte mit dem Finger auf die Lehrerin und sagte ihr auf die Nase zu, dass sie mit der Situation nicht klarkäme. Sie hatte ihre Klasse nicht im Griff, und jeder wusste das. Zunächst versuchte sie, die Situation mit dem Schlägerkind herunterzuspielen. Außer mir traute sich niemand, der Lehrerin die Wahrheit zu sagen. Sie war überfordert und hilflos. Kurz nachdem ich der Lehrerin erklärt hatte, sie habe pädagogisch versagt und die Situation nicht im Griff, bekam ich Schulverbot. Ich hatte
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