Kopernikus 4
den Wasserfällen verkrochen. Ich bin erschöpft und habe vielleicht ein wenig Fieber. Wahrscheinlich der Schock. Ich schätze, daß ich jetzt verhungern muß. Es wäre eine Ehre gewesen, von einem Tyrannosaurus gefressen zu werden, aber an den Folgen eines Sturzes vom Baum zu sterben ist wirklich nur noch erniedrigend.
Die Paarung der Iguanodons ist übrigens ein spektakulärer Anblick. Aber ich habe jetzt zu viele Schmerzen, um es zu beschreiben.
31. August, 17.00 Uhr. Steif, zerschunden, hungrig und schrecklich durstig. Beine immer noch nicht zu gebrauchen, und wenn ich versuche, ein paar Meter zu kriechen, habe ich das Gefühl, in der Mitte durchzubrechen. Hohes Fieber.
Wie lange dauert es, bis man verhungert ist?
1. September, 7.00 Uhr. Als ich aufwachte, lagen drei zerbrochene Eier neben mir. Die Embryos lebten noch – wahrscheinlich Stegosaurier –, aber nicht mehr lange. Die erste Nahrung seit achtundvierzig Stunden. Ob die Eier aus einem Nest irgendwo da oben gefallen sind? Bauen Stegosaurier ihr Nest in den Bäumen, du Dummerchen?
Das Fieber sinkt. Mein ganzer Körper schmerzt. Bin zum Bach gekrochen und konnte ein wenig Wasser trinken.
13.30 Uhr. Bin eingenickt. Aufgewacht, einen Klumpen frisches Fleisch gefunden, nahe genug, um hinzukriechen. Struthiomimus-Keule, glaube ich. Schmeckt widerlich sauer, ist aber eßbar. Ein bißchen daran geknabbert, wieder geschlafen, dann noch etwas gegessen. Ganz in der Nähe grasen zwei Stegosaurier, die winzigen Augen auf mich geheftet. Zwischen ein paar großen Sagopalmen hält eine Gruppe kleinerer Saurier eine Konferenz ab. Und Bertha Brachiosaurus steht kauend auf der Ostrom-Wiese und beaufsichtigt wohlwollend die ganze Szene.
Das ist absolut verrückt.
Ich glaube, die Dinosaurier sorgen für mich. Aber warum sollten sie das tun?
2. September, 9.00 Uhr. Gar kein Zweifel. Sie bringen mir Eier, Fleisch, sogar Palmenzapfen und Baumfarn-Sprößlinge. Zuerst haben sie die Sachen nur gebracht, wenn ich schlief, aber jetzt kommen sie geradewegs herangehoppelt und werfen sie mir vor die Füße. Die Struthiomimen sind die Träger – sie sind die kleinsten, agilsten und flinksten Tiere. Sie bringen mir ihre Gaben, schauen mir direkt in die Augen und warten, als hofften sie auf ein Trinkgeld. Andere Dinosaurier sehen aus der Ferne zu. Das sind koordinierte Bemühungen. Es scheint, als sei ich der Mittelpunkt aller Aktivität auf der Insel. Es kommt mir so vor, als würden sogar die Tyrannosaurier die besten Stücke für mich aufheben. Halluzinationen? Phantasien? Fieberhaftes Delirium? Ich bin bei klarem Verstand. Das Fieber läßt nach. Ich bin immer noch zu steif und zu schwach, um mich über größere Distanzen zu bewegen, aber ich glaube, ich erhole mich schnell von den Auswirkungen des Sturzes. Mit ein bißchen Hilfe von meinen Freunden.
10.00 Uhr. Habe die letzte Aufnahme noch einmal abgespielt. Denke darüber nach. Ich glaube nicht, daß ich wahnsinnig bin. Wenn ich genug bei Verstand bin, um mir über meinen Verstand Sorgen zu machen, wie verrückt kann ich dann sein? Oder mache ich mir etwas vor? Es gibt einen furchtbaren Konflikt zwischen dem, was ich hier wahrzunehmen meine, und dem, was ich eigentlich wahrnehmen müßte.
15.00 Uhr. Einen langen, seltsamen Traum hatte ich heute nachmittag. Ich sah alle Dinosaurier auf der Wiese stehen, und sie waren durch blinkende Drähte miteinander verbunden, ähnlich den Telefonkabeln von früher, und alle Drähte liefen bei Bertha zusammen. Als sei sie die Vermittlung, ja. Und telepathische Botschaften gingen durch sie hindurch zu den anderen. Eine außersinnliche Ringsendung, die kraftvoll durch die Leitungen pulsierte. Ich träumte, daß ein kleiner Dinosaurier zu mir kam und mir eine Leitung anbot; pantomimisch zeigte er mir, wie man sie anschloß, und ein großes Glücksgefühl durchflutete mich, als ich die Verbindung herstellte. Und als ich Anschluß bekam, fühlte ich die tiefen, schweren Gedanken der Dinosaurier, den langsamen, leidenschaftlichen philosophischen Austausch.
Als ich erwachte, erschien mir der Traum auf bizarre Weise lebendig, seltsam real, und die Ideen des Traums waren noch gegenwärtig, wie das manchmal der Fall ist. Ich sah die Tiere um mich herum in einem neuen Licht. Als sei dies nicht nur eine zoologische Forschungsstation, sondern eine Gemeinschaft, eine Siedlung, der einsame Vorposten einer fremden Zivilisation – einer fremden Zivilisation, die auf der Erde
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