Kopernikus 4
nicht schnell genug. Ich hebe das Gewehr.
Und ich kann nicht schießen. Ich kann nicht schießen. Ich kann nicht schießen.
Als er mich fast erreicht hat, schießt Stancato ihn von der Seite her nieder. Sehr effizient. Er krümmt sich langsam und fällt sanft in den Dreck. Er schreit nicht. Sein Messer fällt neben meinen Fuß.
Stancato hat mir schon wieder das Leben gerettet.
Ich drehe mich um und sehe ihn an. Er lächelt, und sein Gewehr raucht. Wieder ein Abschußpunkt. Er ist gut darin. Beim nächsten Mal bekommt er einen großen Rabatt. Und ich? Nein. Ich bekomme nichts. Sie werden mir die Lizenz wegnehmen. Sie lassen mich nicht mehr mitspielen. Ich kriege Erektionen, wenn ich Leuten beim Sterben zusehe, aber ich kann sie nicht töten.
Stancato macht einen Schritt auf mich zu und will etwas sagen. Ich sehe auf mein Gewehr und weiche seinem Blick aus. Es ist ein Gefag-Gewehr. Es verschießt Gefag-Kugeln. Vielleicht erkennen sie nur an den Kugeln, wer geschossen hat. Stancato hat mir zweimal das Leben gerettet. Das halte ich nicht aus. Er wird es jedem erzählen.
Als er auf mich zukommt, hebe ich das Gewehr, ganz ruhig, und erschieße ihn. Ich glaube, ich mache es sehr gut.
Er hat nicht einmal Zeit, überrascht auszusehen. Das Gefag-Gewehr spuckt einen Strom von Kugeln aus, sehr schnell. Seine Brust explodiert, und ich ziehe die Mündung hoch, und die Kugeln kommen immer noch, und sein dunkles, hübsches, ruhiges, lächelndes, effizientes Gesicht verwandelt sich in blutiges Fleisch.
Wampe steht mit offenem Mund da und schreit. „Du hast deinen Kumpel erschossen“, schreit er. „Du hast deinen Kumpel erschossen.“ Ich schwenke das Gewehr herum und erschieße ihn auch. Zum Teufel mit seinen Veteranenabzeichen. Er ist leicht zu töten.
Ich bin den ganzen Tag hindurch allein durch den Wald marschiert. Meine Füße sind kalt, aber das macht mir nichts. Ich habe ein Manöver-Gewehr unter einem Arm und ein Gefag-Gewehr unter dem anderen. Ich sammle Abschußpunkte. Wenn ich genug zusammenkriege, kann ich nächste Woche vielleicht Sergeant werden.
James Tiptree jr.
Houston, Houston, hört ihr mit?
HOUSTON, HOUSTON, DO YOU READ?
Lorimer sieht sich in der vollgepackten Kabine um, er bemüht sich, nicht den Stimmen zu lauschen, versucht das Ziehen in seinen Eingeweiden zu ignorieren, mit dem sich das Kommen einer bösen Erinnerung ankündigt. Zwecklos; er durchlebt ihn erneut, jenen lange zurückliegenden Moment. Er selbst rennt blindlings – oder wurde er gestoßen? – in die fremde Toilette im Evanstone Gymnasium. Den Hosenladen offen, den Schwanz in der Hand, kann er noch immer den grauen Reißverschlußzipfel unter seinem bleichen, entblößten Pimmel sehen. Das erschrockene Einatmen. Die bedrückende Andersartigkeit von Gestalten und Gesichtern, die sich ihm zuwenden. Das erste zögernde Kichern. Mädchen. Er war im Mädchenklo.
Nun weicht er noch immer peinlich berührt zurück, so viele Jahre später, und sieht den Frauen nicht ins Gesicht. Die große Kabine umgibt ihn mit ihren fremdartigen Dingen, die sich über seinem Kopf krümmen und winden: Leitungsrohre, der Zwillingswebstuhl, Andys Lederarbeiten, die verdammten Kudzureben, die sich überall winden, die Hühner. So behaglich … Gefangen, das ist er. Unausweichlich gefangen in einem Leben, in dem ihm nichts gefällt. Strukturlosigkeit. Persönliche Bagatellen, bedeutungslose Intimitäten. Die Regionen, die irgendwie immer unerreichbar für ihn sind. Ginny: Du sprichst nie mit mir … Ginny, Liebes, denkt er unwillkürlich. Der Schmerz kommt nicht.
Bud Geirrs lautes Kichern reißt ihn aus seinem Nachdenken. Bud scherzt mit einigen von ihnen, hinter einem Wandvorsprung seinem Blick verborgen. Aber Dave ist sichtbar. Major Norman Davis, bei der fernen Seite der Kabine, sein bärtiges Profil beugt sich zu einer großen, dunkelhäutigen Frau. Lorimer gelingt es nicht, seinen Blick auf dieses Bild zu fokussieren. Aber Daves Kopf wirkt irgendwie seltsam winzig und scharfkantig. Tatsächlich wirkt die ganze Kabine unwirklich. Von der „Decke“ hört er ein Gackern – die Bantamhenne in ihrem Korb.
In diesem Augenblick ist Lorimer sicher, daß man ihm Drogen eingeflößt hat.
Seltsamerweise erzürnt ihn diese Vorstellung nicht. Er lehnt sich – oder besser: schubst sich – zurück, mit überkreuzten Beinen in der Schwerelosigkeit, und wendet seinen Blick wieder der Frau zu, mit der er gerade gesprochen hat. Connie. Constantia Morelos.
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