Kopernikus 5
auf das, was wir nicht schauen, so warten wir in Geduld.
Diese Stellen stammen aus dem Brief an die Römer. Paulus war ein besserer Briefeschreiber als ich, nicht wahr? Aber wenn Du vielleicht schon angefangen hattest zu glauben, ich hätte Dich vergessen, dann lies bitte diese Passagen ein paarmal und denke über sie nach. Du bist ein Denker, Mal – zumindest im Vergleich zu mir –, und wahrscheinlich wirst Du verstehen, was ich zu sagen versuche, indem ich die Worte eines anderen stehle, um es zu sagen. Ich hoffe, daß Du Hoffnung gehabt hast, weißt Du. Es ist die Hoffnung, die Dich rettet – Glaube und Hoffnung.
Der Grund dafür, daß ich Dir in einem Brief meine religiösen Gefühle enthülle, ist der, daß ich vor nicht allzu langer Zeit nach Tarsus gefahren bin und Sen Pol Kuyusu gesehen habe, die Quelle, aus der die Familie des Heiligen Paulus ihr Wasser bekam. Es scheint manchmal, daß die Quelle des Glaubens und der Hoffnung auf dieser Welt austrocknet, und ich will nicht, daß Du es so empfindest, Mal.
Die verdammte Schreibmaschine – sieh nur, wie verschmiert das e und das o sind, und das n bleibt auch immer stecken …
Außer der Bibel, als lebendige Literatur zu lesen habe ich hier noch die Kopie eines Briefes von meiner Tante – Deiner Großtante – meinem Gewissen. SCHREIBE DEINEM SOHN ist im Grunde das, was darin steht, aber ich will daraus zitieren: „Ich bin gegen Väterlichkeit bei so gut wie jeder menschlichen Unternehmung, W.R., aber Vaterschaft ist wieder etwas anderes. Ich befürchte, Du denkst an dieses letzte Wort nur noch im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Aspekt. Das ist nicht recht, W.R. Wach auf und schäme Dich. Schreibe Deinem Sohn!!!“ Als der Brief hier ankam, hatte ich den Eindruck, daß er unterwegs geöffnet worden war.
An fast allen Briefen, die ich hier bekommen habe, Malcolm, hat sich jemand zu schaffen gemacht. Deshalb werde ich diesen hier nicht auf dem Postamt des Stützpunktes aufgeben. Ich werde auch meine Armeepost-Nummer nicht auf den Umschlag schreiben – nur meinen Namen. Aus Sicherheitsgründen, nehme ich an, zensiert möglicherweise jemand von der Spionageabwehr hier die ankommende und die ausgehende Post. (Das ist einer der Gründe, weshalb ich Dir noch nicht geschrieben habe; ich weiß allerdings, daß das eine müde Ausrede ist.) Ich finde, jemand, der einen solchen Job annimmt, ist eine Art menschlicher Schakal; er frißt Gedärm und Weichteile anderer Leute, und wenn dieser Schakal lesen würde, was ich empfinde, könnte er leicht meinen ganzen Brief zerreißen. Das will ich nicht, aber ich will sagen, was ich sagen will – deshalb schicke ich meinen Brief woanders ab und halte die Daumen.
Um zu zeigen, daß ich Dir vertraue, Malcolm, werde ich Dir genau erzählen, was ich tue. Du darfst es allerdings niemandem sonst erzählen – nicht einmal Doozie. Wenn mein Brief abgefangen wird, bevor Du ihn erhältst, wird man mich feuern; man wird mich einen Verräter und noch Schlimmeres nennen. Dieses Risiko will ich auf mich nehmen, um Dir mein Vertrauen zu zeigen und um Dir ein Weihnachtsgeschenk zu machen, von einem schlechten Christen im Lande der Moslems. Es wird ein verspätetes Geschenk werden, schätze ich.
Ich arbeite für die Central Intelligence Agency – deshalb habe ich meine Offizierslaufbahn beendet; ich mußte sie aufgeben, um diesen Job zu bekommen –, und ich fliege ein neues Aufklärungsflugzeug über der Sowjetunion. Die anderen Piloten und ich machen Luftaufnahmen von militärischen und industriellen Zentren – wir fotografieren auch Starts von Lenkgeschossen und Raketen. Zwar hat niemand von uns hier gesehen, wie die Sputniks hochgingen, aber ein paarmal haben wir den großen Feuerzauber im Tyuratam Kosmodrom gesehen und aufgenommen – von dort schießen die Russen die meisten ihrer Raketen ab. Es erfüllt mich mit lächerlichem Stolz, wenn ich sage, daß die Leute dort genausowenig Superman sind wie Uncle Sam. (Ich schätze, Superman sind wir Piloten, wenn wir unangetastet und unbemerkt über die Brust von Mütterchen Rußland hinweggleiten.) In Wirklichkeit sind sie ein verängstigter und stolzer Haufen von Leuten – mit Reißverschlüssen in den Hosen und Wodkadunst im Atem –, die wissen, daß wir alles beobachten, was sie tun, und daß wir bei jedem Countdown mitzählen, während wir zusehen. Deswegen rasselt ihr Dicker Mann mit seinen Raketen. Er ist ein verängstigter Bär, und er glaubt, wir wollen ihn auf
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