Kornmond und Dattelwein
auf; weiß und glatt wie der Rand eines Gletschers. Sie war zu Hause.
Sanft hob Seb sie hoch und trug sie das Ufer hinauf bis zu einer Gruppe von Weidenbäumen. Die langen Zweige hingen bis ins Wasser hinein. Durch den Blättervorhang waren schwach die Lagerfeuer und die schwarzen Zelte auszumachen. Keinen Laut, dachte sie, nicht einmal ein Flüstern, sonst hören sie uns. Ein Mann trat aus einem Zelt, ließ Wasser ab und verschwand dann wieder hinter den Planen. Ein Baby brüllte. Insekten summten auf den niedergebrannten Feldern. Das Wasser des Flusses klatschte müde gegen die Stadtmauer.
»Jetzt!« flüsterte Seb. Einer der Soldaten zog sich die Lederrüstung aus und tauchte unter der Stadtmauer her, dort wo sich der Hauptkanal in den Fluß ergoß. Inanna stellte sich vor, wie der Mann die Luft in seinen Lungen zurückhielt und durch das eiskalte Wasser schwamm. Im Nomadenlager brannten die Feuer herunter, und die Stimmen erstarben eine nach der anderen. Nur gelegentlich bellte kurz ein Hund.
Dann ergoß sich ein Lichtkeil auf das Ufer. Endlich war das Geheimtor aufgegangen. Eine Frau stand dort und winkte ihnen heftig zu. Das war Sellaki, Sebs Mutter. »Bringt sie her! Beeilt euch, verdammt noch mal!« Die Soldaten brachten Inanna rasch in die Stadt. Sellaki warf hinter ihnen das Geheimtor zu. »Verdammte Bande von lahmen Wasserschnecken!« schimpfte sie. »Worauf habt ihr denn gewartet? Vielleicht auf einen Passierschein der Nomaden?« Sie hustete und beugte sich dann über die Königin. »Willkommen daheim,
Muna«,
sagte sie und verbeugte sich.
Inanna spürte, wie andere Hände sie hochhoben und auf die königliche Trage legten. So weiche Kissen. Eine Dienerin legte eine leichte Decke über sie, und eine andere drückte ein feuchtes Tuch auf ihre Stirn. Das Wasser war mit Rosenöl versetzt. Der Duft brachte ihrem Kopf angenehme Leichtigkeit.
»Wird sie es überleben?« hörte sie Sellaki fragen. Trotz der späten Stunde hatte sich hier eine ansehnliche Menschenmenge versammelt. Inanna hatte den Eindruck, von einem Meer von Gesichtern angestarrt zu werden.
»Wo bleibt der Rest der Armee?« rief ein Mann. »In der Stadt stehen kaum mehr als zwei Magurs.«
»Es gibt keine Armee mehr«, antwortete Seb.
»Wie?«
»Sie sind alle tot, niedergemetzelt von der Übermacht der Schwarzköpfigen.« Die Menge stöhnte, und eine Frau fing an zu weinen. Inanna hörte, wie sich hinter ihr die Unglücksbotschaft verbreitete. Plötzlich war Sellakis Gesicht wieder über ihr.
»Was habt Ihr Lyra angetan, meine Königin? Was habt Ihr unserem Volk angetan?«
»Laß sie in Ruhe, Mutter«, fuhr Seb sie an.
»Dank unserer Königin haben wir nichts mehr zu essen«, schimpfte Sellaki weiter.
»Wir haben die Nomaden mit Steinen bekämpfen müssen!« rief eine Frau. Eine Alte kreischte hysterisch und schrie immer wieder, daß die ganze Armee vernichtet sei. Die Menge drängte sich vor und stieß an die Trage.
»Verflucht sei die fremde Königin!«
Hände streckten sich nach ihr aus, zerrten an ihrem Gewand und zerrissen es. Ein Stein traf sie an der Wange. Dann stand Seb mit erhobener Axt vor der Trage.
»Wage sich niemand an die Königin heran«, rief er. Die Menge wich zurück. Die Träger brachten Inanna rasch fort. Sie lag in ihren Kissen und starrte auf den weißen Wall. Er war so nah, daß sie nur die Hand ausstrecken mußte, um ihn zu berühren. Inanna fühlte sich leer, erschöpft und verletzt. Alle hatten sich gegen sie gewandt. Wenn Seb sie nicht aufgehalten hätte, wäre Inanna jetzt nicht mehr am Leben. Oder hatten sie recht? War es ihre alleinige Schuld, daß die ganze Armee verloren war? Oder wäre es in jedem Fall so gekommen? Sie war viel zu matt, um diese Fragen weiterzuverfolgen. Sie wußte nur, daß sie ihr Bestes gegeben hatte, und das war leider nicht genug gewesen. Aber sie hatte Pulal getötet, und damit hatte sie etwas für die Stadt getan. Wäre Pulal noch am Leben, hätten die Nomaden bereits die Stadt gestürmt und geplündert.
Inanna verdrängte den Gedanken, wollte nicht mehr darüber grübeln. Die Trage schaukelte, und Inannas Gedanken begannen zu wandern. Kurz bemerkte sie, daß sie in die Zukunft sehen konnte. Vor ihr entstand das Bild einer Zeit, in der die Schwarzköpfigen und die Stadtbewohner zu einem Volk zusammengewachsen waren. Zusammen bauten sie eine neue Stadt auf den Ruinen der alten: große Tempel, Türme mit Terrassengärten und ein Kanalsystem, mit dem sich der Fluß
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