Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
jemand versucht haben könnte, sie zu vergewaltigen oder umzubringen.
»War Ihr Führerschein in Ihrer Brieftasche?«, fragte Liska.
»Ja.«
»Stimmt die Adresse, die dort angegeben ist, mit Ihrer Wohnadresse überein?«
»Nein. So dumm bin ich nun wirklich nicht.«
»Befand sich sonst etwas in Ihrer Tasche, aus dem Ihre Adresse ersichtlich ist?«
Sie schwieg einen Moment lang, starrte auf ihre Hände, die sie sich an dem Beton tief aufgeschürft hatte. Einige Fingernägel waren abgebrochen.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang plötzlich bei weitem nicht mehr so fest. »Ich bin sehr müde. Ich möchte nach Hause. Ich habe den Mann, der mich angegriffen hat, nicht gesehen. Ich kann Ihnen nichts mitteilen, was Ihnen von Nutzen wäre. Können wir es nicht damit gut sein lassen?«
»Hatten Sie abgesehen von Ihrer Handtasche etwas bei sich?«, fragte Liska.
»Meine Aktentasche. Hat jemand sie gefunden? Ich wollte übers Wochenende einige Papiere durcharbeiten.«
»Von einer Aktentasche hat man uns nichts gesagt«, erklärte Kovac. »Ihre Handtasche wurde am Tatort sichergestellt, ebenso die Sachen, die herausgefallen waren. Was befand sich in der Aktentasche?«
Er konnte sehen, dass sie von leichter Panik erfasst wurde. »Notizen, Berichte, Empfehlungen bezüglich des Strafmaßes in verschiedenen Fällen.«
»Etwas, das jeder Handtaschendieb unbedingt haben will«, erklärte Kovac mit unverhülltem Sarkasmus. Carey Moore achtete nicht auf ihn. »Die Aktentasche stammt von meinem Vater. Sie bedeutet mir sehr viel.«
»Irgendwelche Unterlagen zum Fall Karl Dahl?«
Sie mied seinen Blick, offensichtlich verärgert, weil er ihr zu verstehen gab, dass sie mit ihrer Einschätzung, das zufällige Opfer eines Überfalls geworden zu sein, danebenlag. Das konnte er ihr im Grunde nicht verübeln. Niemandem gefiel die Vorstellung, Ziel eines von langer Hand geplanten Gewaltakts zu sein.
»Ja.«
»Wir müssen wissen, bei welchen Fällen Sie in letzter Zeit sonst noch den Vorsitz hatten«, sagte Liska. »Wer Groll gegen Sie hegen könnte. Wer einer harten Strafe entgegensieht. Straftäter, die Sie ins Gefängnis gebracht haben und die kürzlich entlassen wurden. Alles, was Ihnen einfällt.«
»Gut«, sagte die Richterin mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. Das Adrenalin hatte sich verbraucht, und sie steuerte jetzt auf einen absoluten Tiefpunkt zu, dachte Kovac. Er hatte das schon tausendmal gesehen. Er war selbst ein oder zwei Mal Opfer von Gewalt gewesen.
»Kann Ihr Mann Sie abholen, Richterin?«, fragte Liska. »Sie können unmöglich selbst fahren.«
»Ich rufe mir ein Taxi.«
»Sie scheinen nicht in der Verfassung zu sein, sich allein auf den Weg zu machen«, sagte Kovac und fragte sich, wo der Ehemann blieb. Seine Frau war zusammengeschlagen worden. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass es sich bei dem Überfall um einen Mordversuch gehandelt hatte. »Hält er sich außerhalb der Stadt auf? Ihr Ehemann?«
»Er hat einen Geschäftstermin. Ich schaffe das schon.«
»Weiß er, dass Sie hier sind? Haben Sie ihn angerufen?«
»Er ist bei einem Essen. Er hat sein Handy ausgeschaltet.«
Erneut spannten sich ihre Kiefermuskeln an. Sie wollte nicht über ihren abwesenden Ehemann sprechen. Lieber würde sie aus dem Krankenhausbett kriechen und allein mit einer Gehirnerschütterung, ein paar gebrochenen Rippen und einem Trauma fertig werden, als zu versuchen, den einen Menschen ausfindig zu machen, der noch vor Kovac und Liska an ihrem Bett im Krankenhaus hätte sein sollen.
»Wo findet dieses Geschäftsessen statt?«, fragte Kovac. »Wenn Sie nach Hause wollen, sollten Sie dort nicht allein sein. Wir können in dem Restaurant anrufen oder einen Kollegen von der Streife dorthin schicken, der ihm Bescheid sagt.«
»Ich weiß nicht, wo das Essen stattfindet«, antwortete sie schroff. »Es besteht kein Grund, ihn zu stören. Das Kindermädchen wohnt bei uns im Haus.«
Kovac warf Liska einen Blick unter hochgezogenen Augenbrauen zu.
»Ich werde Sie nach Hause fahren, Richterin«, sagte er. »Sobald Sie Ihren Entlassungsschein unterschrieben haben.«
»Das ist nicht nötig.«
»Nun, da bin ich anderer Meinung, und davon werden Sie mich auch nicht abbringen«, sagte er mit gepresster Stimme. »Sie sind immer noch ein mögliches Ziel, und Sie sind klug genug, das zu wissen. Ich bringe Sie nach Hause und versichere mich, dass dort alles in Ordnung ist.«
Carey
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