Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
glaubte, er würde sich nicht rechtens verhalten. Als der Prozess näher rückte, stieg seine Anspannung, und er verlor immer mehr die Kontrolle über seine Gedanken und die damit einhergehenden Gefühle.
Dass Karl Dahl entkommen war, erfuhr er aus den Zehnuhrnachrichten am Freitagabend. Stan hatte praktisch keine Erinnerung an die nächsten paar Stunden. Er war völlig ausgerastet. Der Druck, der auf seinem Kopf lastete, war so stark, dass er glaubte, er würde explodieren und man würde ihn mit offener Schädeldecke auf dem Fußboden seines Wohnzimmers finden und jeder könnte dann annehmen, er hätte sich umgebracht.
Er hatte Stühle und Tische umgeworfen. Er hatte ein Loch in die Wand getreten. Er war in die Kammer gelaufen und hatte jedes Gewehr, das er besaß, hervorgeholt. Er hatte seine Dienstwaffe auf das Sofa gelegt. Dass keiner seiner Nachbarn die Polizei gerufen hatte, zeigte, wie sehr dieses Viertel in den letzten Jahren heruntergekommen war.
Zwischen den Anfällen war er immer wieder in unruhigen Schlaf gefallen – auf dem Wohnzimmerfußboden, am Esszimmertisch – , nur um nach kurzer Zeit wieder aufzuwachen und festzustellen, dass seine Wut keineswegs verraucht war.
Karl Dahl lief frei in der Stadt herum, und es gab rein gar nichts, was er daran ändern konnte. Es hatte sich nicht einmal einer seiner Kollegen die Mühe gemacht, ihm die Nachricht persönlich zu überbringen. Jeder Polizist in der Stadt war unterwegs, um Dahl zu finden, nur er nicht. Er war an den Schreibtisch verbannt worden. Sie hätten ihn genauso gut daran festketten können.
Er tigerte ruhelos und schwer atmend durch sein kleines Haus, und erneut baute sich der Druck in seinem Kopf auf. Die Nacht neigte sich ihrem Ende zu. Ein neuer Tag brach an.
Dempsey schaltete den Fernseher auf der Küchentheke an. Channel 4 hatte das übliche Samstagmorgenprogramm mit Quizshows und vermischten Nachrichten aus der Region durch einen Bericht über die Flucht von Karl Dahl und den Überfall auf Richterin Moore ersetzt.
Eine Nachrichtenreporterin stand vor dem Bezirksgefängnis und erklärte gerade, der Aufruhr habe damit begonnen, dass einer der Gefängnisinsassen Karl Dahl zusammengeschlagen hatte. Dann war die Hölle losgebrochen. Notarztwagen hatte man rufen müssen. Die Situation war eskaliert, und einige der Insassen hatten so schwere Verletzungen davongetragen, dass ganz normale Sicherheitsvorschriften missachtet worden waren. Keiner hatte den bewusstlosen Dahl an die Trage gefesselt, auf der er ins Krankenhaus transportiert worden war.
Das gibt's doch nicht , dachte Dempsey. Der größte Erfolg seiner Laufbahn war durch Dummheit und Nachlässigkeit zunichtegemacht worden. Das Böse war freigekommen und bewegte sich nun ungehindert durch die Stadt. Brave Familien, Kinder waren gefährdet.
Dempsey holte eine Packung Müsli aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch, begann damit, sich Frühstück zu machen, nur um irgendetwas Normales zu tun, sich ein wenig abzulenken, Druck abzulassen.
Im Fernsehen war der Bericht aus dem Gefängnis abgelöst worden durch Bilder von Polizeiautos, die durch die dunklen Straßen fuhren, dann eine Aufnahme vom Gerichtsgebäude, dann eine von dem Parkhaus daneben und schließlich ein Foto von Richterin Moore.
Sie sah ziemlich überheblich aus, mit ihrer Robe und dem ernsten Ausdruck im Gesicht. Ihre Augen hatten die Farbe des Winterhimmels – ein kaltes, durchdringendes Blaugrau. Stan Dempsey kannte diesen Blick, er vermittelte einem das Gefühl, eine hässliche, kleine Kakerlake zu sein, die zwischen ihren Füßen herumkroch.
Es folgte eine Direktübertragung aus dem Parkhaus, wo ein Reporter von dem Überfall auf Richterin Moore berichtete. Der Tatort war noch immer abgeriegelt, und Markierungen auf dem Betonboden zeigten an, wo mögliche Beweisstücke gelegen hatten, die mittlerweile weggebracht worden waren.
Richterin Moore, die gerade eine Entscheidung im Sinne der Verteidigung von Karl Dahl getroffen hatte, war von der Fußgängerbrücke aus ins Parkhaus gegangen. Der Täter war aus den Schatten getreten und hatte sie von hinten angegriffen. Er hatte sie niedergeknüppelt und auf sie eingeschlagen, wieder und wieder und wieder …
Dempsey spürte, wie sich zu seiner Wut ein Gefühl der Befriedigung gesellte. Aus ihm unbekannten Tiefen seines Geistes stieg der Gedanke auf, dass sie bekommen hatte, was sie verdiente. Jemand musste ihr ein bisschen Vernunft einbläuen. Sie musste am
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