Kramp, Ralf (Hrsg)
er, streckt ihr die blutenden Hände entgegen und legt den Kopf schief.
Ist es der Anblick des Blutes, ist es sein jammervolles Gesicht, ist es die Tatsache, dass er einen Meter unter ihr steht? Nie vorher war ihr seine entsetzliche Unterwürfigkeit bewusster geworden. Sie macht sie wahnsinnig, sie spürt, wie ihr der Puls hinter den Schläfen zu klopfen beginnt.
Rasend vor Wut holt sie aus und lässt das flache Spatenblatt auf Alfreds Kopf krachen. Es federt nach, Alfred sackt in die Knie. Mathilde schlägt erneut zu, auch auf die Schultern und die Arme. Er rappelt sich auf, und sie rammt ihm das Blatt in die Brust, er torkelt. Sie rammt, er torkelt. Er fällt auf den Rücken. Sie stochert wie wild auf ihm herum, als wolle sie ihn in einzelne Stücke hacken, wie einen Kuchen auf einem Blech.
Als Blut aus seinen Mundwinkeln quillt und seine Gliedmaßen unkontrolliert zucken, hält sie inne. Als er seine Augen verdreht und das Licht in seinen Pupillen erlischt, betrachtet sie die Bescherung.
Der schöne, neue Trainingsanzug ist zerfetzt. Wenn sie eine andere Waffe gehabt hätte, hätte sie nicht den Spaten genommen. Ein Messer oder eine Pistole, aber Derartiges besitzt sie nicht, und selbst wenn, hätte sie sie nicht mitgebracht, denn, als sie hierher zur Laufschule nach Ellscheid kam, hatte sie nicht vor gehabt, Alfred zu ermorden.
Sie wollte nur wissen, warum er heute früher gefahren war, als gewöhnlich. Sie hatte den Verdacht, dass er gar keinen Sport machte, sondern sich hier mit jemandem traf. Mit einer Frau. Einer aus der Laufgruppe. Einer Geliebten. Und heute hat er es vielleicht nicht abwarten können, sie wiederzusehen.
Aber eine Geliebte gibt es nicht. Ihn mit einer Geliebten zu erwischen, hätte ihn in ihren Augen wenigstens zu einem richtigen Mann gemacht. Ein Lehmstampfbecken auszuheben ist einfach nur lächerlich. Vielleicht hat Mathilde Alfred auch aus Enttäuschung erschlagen.
Und nun, da es geschehen ist, blickt Mathilde sich kurz um, springt zu ihm hinunter, zieht ihm das rote Käppi vom Kopf und die weißen Schuhe, die jetzt eher lehmfarben sind, von den Füßen und klettert wieder hinaus. Sie legt beides beiseite und schiebt mit dem Spaten die aufgeworfenen Lehmhaufen in die Grube zurück, bis die Zwischenräume ausgefüllt sind und Alfred völlig bedeckt ist. Dann tritt sie die Lehmschicht platt. Nicht ohne dabei ständig über dem Grubenrand Ausschau zu halten, ob Frau Umbach mit ihrer Laufgruppe schon zurückkehrt.
Alfred ist kein dicker Mann und außerdem hat er vermutlich viel zu tief gegraben – er tut nie, was man ihm sagt - so dass Mathilde davon ausgehen kann, dass niemand etwas bemerken wird.
Nach getaner Arbeit nimmt sie erleichtert Käppi und Sportschuhe an sich, verlässt die »Laufoase« und steigt in ihr Auto, das sie auf der großen Löwenzahnwiese vor dem Tor abgestellt hat. Langsam fährt sie über den Mürmesweg in den Ort zurück und parkt hundert Meter weiter, schräg gegenüber der
St.-Antonius-Kirche
am Rand der Hauptstraße.
Es ist nur ein Freitagmittag, der letzte im April, aber der Ort liegt so still und menschenleer, als sei es ein Sonntag. Vor den Haustüren blühen in Kübeln Stiefmütterchen und Tulpen. Pollen fliegen im leichten Wind. Eine dicke Glückskatze streicht an einer Mauer entlang, und ein geflecktes Kälbchen unter einem violetten Fliederbusch beobachtet die fremde Frau, die, bewaffnet mit einem roten Käppi und ein paar Sportschuhen, vor der Bushaltestelle mit der Bronzestatue
Os Tant wort op de Bus
nun zu Fuß wieder auf den Mürmesweg einbiegt.
Mathilde lässt die »Laufoase« mit ihren Gartenhäusern, tibetanischen Gebetsfähnchen in den Bäumen, dem Weiher, der Feuerstelle und nicht zuletzt dem halbfertigen Lehmstampfbecken rechts liegen.
Als Nächstes folgt der Friedhof. Mathildes Blick schweift vom Kriegerdenkmal, der Trauerhalle und der kleinen Votivkapelle zu den akkuraten Buchenhecken, die die Gräber in Felder aufteilen. Es ist genügend Platz für Neue da. Aber Alfred wird auf keinem Friedhof der Welt beerdigt werden, auch nicht in seinem Heimatort Gillenfeld.
Einen Gedanken lang bedauert Mathilde, nie an seinem Grab stehen zu können, um an die schöne Zeit zu denken, die sie miteinander gehabt hatten, als er noch ein stolzer, selbstbewusster Mann war. Bevor die Depressionen kamen.
Mathilde setzt sich das rote Käppi auf die blonden Locken, schwenkt einen Schuh in jeder Hand und setzt ihren Weg über die Anhöhe fort. Weite
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