Kramp, Ralf (Hrsg)
nennt sie die »Schwarze Frau«.
Eines Tages scheint auch sie aufgegeben zu haben, denn Mathilde sieht sie nicht mehr. Sie ist verschwunden, spurlos, mysteriös, so wie Alfred damals. Man könne sich gar einen Zusammenhang vorstellen, steht im
Trierischen Volksfreund
. Obwohl oder vielleicht auch, weil sie viel jünger als Alfred war und sie eine gemeinsame Leidenschaft hatten: das Laufen.
Im September, sechs Monate nach Alfreds Tod – Mathilde bezieht fleißig seine Rente, und das Lehmstampfbecken in der »Laufoase« verrichtet insbesondere zur Freude der Kinder seine Dienste – rumpelt Inge Umbachs weißer Jeep über den Weg
Unterm Schlafberg
ins Naturschutzgebiet
Miirmes
. Um die Laufstrecke im Herbst von Laub und im Winter von Schnee und Eis zu befreien, hat sie eine Erlaubnis vom Förster bekommen. Am nächsten Tag soll ein Benefizlauf zugunsten eines Ruandaprojektes stattfinden.
Am alten Wehr, das den Mürmesbach zur Torferhaltung staut, läuft ein Rinnsal quer über den Weg. Wenig Licht kommt an diese feuchte, dunkle Stelle, aber ein schmaler Sonnenstrahl fällt durch den Blätterwald auf einen weißen, gebogenen Stamm, der im rostigen Schütz-Schieber, der ewig lange nicht mehr geöffnet wurde, eingeklemmt ist.
Inge Umbach hält an, steigt aus und klettert durch den Matsch. Nach ein paar Schritten glaubt sie, am Ende des Stammes eine Hand zu erkennen, zwischen den aufgequollenen weißen Fingern scheint schwarzer Torf zu kleben. Ungläubig nähert sie sich und blickt über den Schieber auf den Moorweiher, wo tatsächlich im Morast ein menschlicher Körper an der Oberfläche schwimmt. Mit dem Rücken nach oben.
Mann oder Frau?
Klarheit erhält Inge Umbach, als die Polizei mit einem Kranwagen die Leiche aus dem Moor heben lässt und auf dem Waldweg ablegt. Der aufgedunsene Körper ist entstellt, ein schwarzer Tüllschleier hat sich um die Hüften der Toten geschwungen.
Der Benefizlauf findet trotzdem statt. Ruanda ist weit weg.
Ganz allmählich kehrt wieder Ruhe in Ellscheid und Gillenfeld ein. Mathilde freut sich ihres Lebens und ist dankbar, dass die Gerechtigkeit endlich gesiegt hat. Alle haben bekommen, was sie verdient haben, Alfred und Sandra, und sie selbst ganz besonders. Sie genießt ihre Freiheit, und mit Alfreds beachtlicher Rente, die sie nun ganz für sich allein hat, plant sie die Weltreise, die sie schon immer machen wollte. Weihnachten auf Haiti, oder so. Aber wenn sie das Haus verlässt, trägt sie nachlässige Kleidung, beugt den Rücken und lässt die Mundwinkel hängen. Ihre traurigen Augen scheinen ruhelos nach Alfred zu suchen, als könne er jeden Augenblick hinter einer Häuserecke auftauchen.
Das tut er nicht, denn das Schicksal hat Zeit, und es geht seinen eigenen Gang, Schritt für Schritt.
Ende Oktober, da steht eines Tages Inge Umbach vor Mathildes Tür. Mathilde streckt nur den Kopf durch den Spalt, denn sie trägt gerade ihren neuen, hautengen, rosa Nicki-Hausanzug. Nachdem sie sich die freundlichen, einfühlsamen Worte des ungebetenen Besuches angehört hat, fragt sie ungeduldig: »Was wollen Sie denn eigentlich hier?«
»Wollen Sie nicht mal mit uns laufen?«, fragt Inge Umbach aufmunternd. »Laufen ist gut für die Seele, besonders wenn die dunklen Tage kommen.«
»Ich weiß nicht«, zögert Mathilde, die im Lebtag nicht laufen würde. Womöglich würde die Umbach sie auch noch überreden in dieses Lehmstampfbecken zu gehen und auf Alfred herumzutrampeln. »Vielleicht im nächsten Jahr.«
»Ja, gerne, jederzeit, wann immer Sie möchten«, freut sich Inge Umbach. »Im Frühjahr ist auch das Lehmstampfbecken neu betoniert und der frische Lehm aufgefüllt. Das wird Ihnen gut tun, Sie werden sehen. Bis dahin, alles Gute für Sie.« Sie wendet sich ab, geht die Stufen hinunter und schiebt das Gartentor auf.
Mathilde muss schlucken. »Neu betoniert, sagen Sie?«
Inge Umbach dreht sich um. »Der Lehm muss natürlich regelmäßig ausgetauscht werden, der Hygiene und der Heilkraft wegen, verstehen Sie, und letztes Mal habe ich gesehen, dass es Risse im Beton gibt. Das ist ärgerlich.«
Das kann man wohl sagen, denkt Mathilde.
Der letzte Tango in Michelbach
VON U WE V OEHL
Petra
Michelbach. Man lasse sich den Namen mal auf der Zunge zergehen: Mich-el-bach. Das klingt wie aus einem Kinderbuch von Astrid Lindgren oder so : Michel aus Lönneberga und Nils Holgersson. Oder wie eine dieser Autobahnabfahrten, auf denen nie jemand abbiegt.
Wir sind abgebogen, natürlich nur
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