Kramp, Ralf (Hrsg)
begeistert die Arme aus. »Mann, so viele. Da möchte man ja sofort alle mitnehmen.« Er schnappte sich ein Saxofon vom Ständer. »Echt scharf. Fünftausend Ocken für das Stück Blech.«
Tinas mulmiges Gefühl verstärkte sich wieder. Blech? Hatte sie richtig gehört? Jemand, der über Instrumente ein solches Blech redete, verletzte sie tief.
Tina war seit ihrer Kindheit fasziniert von Musik. Sie vergötterte alles, was damit zusammenhing. Mit vier Jahren hatte sie Xylofon gespielt, mit sechs Blockflöte, süße sieben war sie gewesen, als sie sich voller Enthusiasmus auf die Geige stürzte. Bei Familienfesten hatte Tina vorspielen dürfen. Dabei kreiste der Schnaps, und ihre Zukunft wurde in rosigen Farben ausgemalt. Die
Scala
in Mailand,
Semperoper
in Dresden und als absolutes Highlight: Übersee. Die
Met
in New York. Was für eine Karriere.
Kurz vor Tinas Pubertät kippte die Stimmung. Nach einer Klaviersonate, die sie auf dem Geburtstag ihrer Mutter zum Besten gegeben hatte, urteilte Onkel Otto: »Da wird ja die Milch sauer, wenn das Kind in die Tasten haut.«
Heulend war Tina auf ihr Zimmer geflüchtet. Ihre Befürchtungen, sie treffe kaum einen Ton, waren zum ersten Mal bestätigt worden. Egal welches Instrument sie versuchte, die Disharmonie schien trotz fanatischen Übens an ihren Fingern zu kleben wie Scheiße am Schuh.
Jeder sonst hätte die Konsequenz gezogen und sofort alles, mit dem man Laute erzeugen konnte, wütend aus dem Haus verbannt. Doch Tina akzeptierte ihr fehlendes Talent und näherte sich fortan der Musik auf anderem Wege. Die filigrane Verarbeitung von Posaunen, Gitarren, Geigen und Flügeln fesselte sie. Neben ihrer Ausbildung zur Verkäuferin saugte sie alles in sich auf, was nur annähernd mit dem Aufbau von Instrumenten zu tun hatte. Rasch kannte sie sich mit Mundstücken bei Blasinstrumenten aus und wusste, wie sich der Kessel auf die Töne auswirkte. Bei Gitarrensaiten lernte sie die Unterschiede zwischen Darmsaiten, Seidensaiten, Nylonsaiten, Carbonsaiten und Stahlsaiten kennen. Begriffe wie Hi Hat, Tom Tom oder Membranofon brannten sich in ihre Hirnwindungen ein. Kurzum: Als sie ihren Abschluss als Verkäuferin in der Tasche hatte, setzte sie sich hin und schrieb sich die Finger in der Online-Enzyklopädie Wikipedia wund.
Nach vier Monaten hatte sie die letzte Seite überarbeitet. Endlich fand sie die Zeit, sich einen Job zu suchen, in dem sie ihre Liebe zur Musik verwirklichen konnte. Einem Wunder gleich leuchtete ihr am selben Tag die Stellenanzeige des
Musikhauses Müller
in Daun entgegen. Am nächsten Morgen lieh sie sich den Wagen ihres Bruders und sauste in die Eifel, um sich vorzustellen. Hermann, der Chef, war von ihrem Wissen so beeindruckt, dass er sie vom Fleck weg einstellte.
Seitdem lebte sie in der Eifel. Ihr Bruder, der im heimischen Schwabenland bei einigen düsteren Gestalten auf der Abschussliste stand, war praktischerweise mit in die kleine Wohnung in Kirchweiler geflüchtet.
Allerdings hatte Tina nicht mit dem Heimweh gerechnet. Jede Minute sehnte sie sich zurück zu den leckersten Brezeln der Welt und zu den Biergärten, in denen man zünftige Halbe servierte.
»Ein Saxofon ist als Holzblasinstrument klassifiziert«, erklärte sie und unterdrückte den Wunsch, dem Kleinen das kostbare Stück aus der Hand zu reißen. »Über den Preis können wir natürlich sprechen, wenn Sie sich für einen größeren Einkauf entscheiden sollten.«
Der Kleine grinste sie schief an. »Holz?«
Sie nickte und holte tief Luft. »Vielleicht sollten wir doch lieber mit etwas Robusterem anfangen? Eine E-Gitarre vielleicht? Die kann man so richtig rannehmen. Und praktischerweise haben wir hier in der Werkstatt den weltbesten Saitenstimmer.« Sie lachte freundlich. »Da können Sie der Gitarre den Hals umdrehen. Er würde sie in zwei Stunden wieder zur legendären
Fender Stratocaster
von Jimi Hendrix hinbiegen.«
Der Lange runzelte die Stirn.
Sie lachte unsicher. »Jimi Hendrix? Woodstock? Der Gitarrist? Die Legende? Die teuerste Gitarre der Welt?«
Alle drei standen jetzt um sie herum und sahen sie an, als ob sie eine Außerirdische wäre. Alien, dachte sie und sah Sigourney Weaver durch die Gänge eines zum Tode geweihten Raumschiffes stolpern.
»Ouatschtzuviel«, flüsterte der Mittlere dem Langen zu.
»Bitte?«
Der Lange winkte ab. »Nicht wichtig. Zeigen Sie uns doch mal diese Sender … äh … Blender … diese Gitarre.«
Tina unterdrückte den Wunsch, zu seufzen
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