Kramp, Ralf (Hrsg)
häuslich eingerichtet. Abseits der Zivilisation, ohne fließendes Wasser, ohne Stromanschluss, ohne Heizung. Aber er verfügt über eine eigene Homepage, auf der er seine »lieben Freunde« in einem Kurzvideo begrüßt. Dass Harry erfinderisch ist und sich technischen Errungenschaften gegenüber nicht verschließt, merkt man dem gesamten Areal an, auf dem er gern stolz die Besucher herumführt. Da gibt es einen Baderaum und eine Sauna, alles Marke Eigenbau. In seinem »Sterne-Hotel« befindet sich ein Heubett für Gäste. Und er hat eine kleine Kraftanlage konstruiert, die ihm den nötigen Strom liefert.
»Wenn die Batterie voll ist, verkauf ich den Rest an RWE«, pflegt er mit einem Augenzwinkern dem staunenden Besucher zu sagen. Harry freut sich über jeden, der bei ihm vorbeikommt. Er trägt Cowboyklamotten und einen Sheriffstern auf der Brust und ist ein Unikum, wie es sie nur in der Eifel gibt.
Einmal wäre er fast in seiner Hütte erfroren. Die Eifel gilt gemeinhin als Deutschlands Eisschrank, auch in Sommernächten kann es hier empfindlich kalt werden. Aber Harry ist zäh und so schnell nicht umzubringen, und so lebt er weiter fröhlich und zufrieden auf seiner Ranch.
»Die Königs!«, rief er freudig aus, als er uns sah. Die Fältchen um seine hellwachen Augen tanzten. Wir unterhielten uns eine Weile, bis ich auf die verschwundenen Kinder zu sprechen kam.
»Ich hab mich schon über den Hubschrauber gewundert«, bemerkte Harry. »Hoffentlich haben die nicht am Wasserfall gespielt.« Nachdenklich schob er den Hut ins Genick.
Eingebettet in eine herbschöne Landschaft, ist der stark bemooste Wasserfall Dreimühlen ein einmaliges Naturdenkmal. Wann immer wir hier sind, erlauben wir uns einen Abstecher dorthin oder gehen danach in der
Nohner Wassermühle
nahebei einen Kaffee trinken.
Das Wasser rieselt und spritzt in glitzernden Fontänen über bizarr zerklüftete Felsnasen und Moosflechten herab, die stetig vom Kalk überzogen werden. So entstehen immer neue Ablagerungen, die von Wasser, Luft und wuchernden Moosen geformt werden.
»Das Sintergestein ist ziemlich brüchig. Die darunterliegenden Dolinen können zur gefährlichen Falle für Mensch und Tier werden«, erklärte Harry. »Alles ist porös. Ein falscher Tritt und schon ist es passiert. Dann gute Nacht, Marie.«
»Was sind denn Dolinen?«, fragte ich Herbert auf dem Rückweg. Das Wort hatte ich noch nie gehört.
»Das sind Krater und Trichter im Sinter, die durch das Sickerwasser entstehen und die leicht einstürzen können.«
Dafür bewundere ich Herbert, dass er solche Sachen weiß.
Schweigend schlenderten wir zurück zum Gasthof.
Das Abendessen wollten wir auf der Terrasse einnehmen. Nach und nach waren alle Tische besetzt. Die Sonne hatte nur noch wenig Kraft, ein leichter Frühlingswind wehte. Ich fröstelte ein wenig.
Drüben auf der anderen Seite sah man die alte romanische Kirche
St.-Leodegar
, die zu dem ehemaligen barocken
Augustiner-Kloster
gehört, mit dem angrenzenden Friedhof und seinen gepflegten Gräbern. In der Kirche steht eine der ältesten spielbaren Orgeln im Land, erbaut von unserem Namensvetter Balthasar König.
Markus Schröder servierte uns je eine Portion Spargel mit jungen Kartöffelchen und gebratenem Lachs. Während wir es uns schmecken ließen, betrat ein Mann in Motorradkluft die Terrasse, schaute sich kurz um und fragte, ob bei uns noch Platz sei. »Selbstverständlich«, sagte ich und rückte ein wenig zur Seite.
Der Mann schälte sich aus seiner Lederjacke und setzte sich zu uns. Binnen Kurzem erfuhren wir seine Lebensgeschichte. Rudolf Nagel wohnt in Bodenbach in der Nähe des Nürburgrings. Ursprünglich kam er aus dem Saarland, was seinem Sprachduktus anzuhören ist. Seine Großeltern mütterlicherseits stammten aus der Eifel und dahin hat es ihn vor ein paar Jahren wieder gezogen.
»Ich war mal Schlagzeuger bei der Band
Black Forrest«
, erzählte er.
»Black Forrest wie Schwarzwald?«, fragte ich und lachte. »Genau. Der Rhythmus liegt bei unserer Familie im Blut. Von meinem Opa erzählt man sich, er sei ein guter Trommler gewesen.«
»Dann haben Sie ihn nicht mehr kennengelernt?«, hakte ich nach.
»Leider.« Rudolf Nagel schüttelte den Kopf. »Mein Großvater ist vermisst, wie so viele. Adolf Hitler und sein Krieg hat ihm gar nicht gepasst. Aber er musste Soldat werden, obwohl er erst Anfang zwanzig war. Meine Großmutter war schwanger, er hätte sie gern geheiratet und mit ihr eine Familie
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