Krank (German Edition)
hätte ich ihn gegen die Wand geschleudert. Stattdessen blickte ich aus dem Fenster, atmete langsam und versuchte zähneknirschend, meinen Zorn in den Griff zu kriegen. Ich betrachtete seinen geliebten Garten, in dem sich gerade ein Roter Kardinal in den Himmel hinaufschwang. Ein Stück weiter hinten summten die Bienen in ihren Stöcken. Ich sah den weißen Stuhl im Schatten, auf dem mein Bruder seine Bücher las. Bislang war ich davon ausgegangen, für Jeremy wäre ein Ort wie der andere. Wer hätte gedacht, dass er sich irgendwo heimisch fühlen konnte? Hier war er zu Hause, hatte Wurzeln geschlagen, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Das war ein erster Schritt. In ihm vollzog sich eine Veränderung. Vielleicht war es ihm sogar möglich, inneren Frieden zu finden, den er in klaren Momenten zu suchen und nie zu finden vorgab.
»Lebst du gern hier in den Wäldern?«, fragte ich ihn.
»Ich fühle mich hier zu Hause. Bislang war es mir nicht möglich, dieses Wort laut auszusprechen. Ja, ich bin gern hier.«
Wieder konsultierte ich meine Armbanduhr. »Ich lasse dir drei Stunden Vorsprung, bevor ich dich verpfeife. Los, die Uhr tickt.«
Ihm fiel die Kinnlade herunter. »Was?«
»Stehst du auf anonyme Anrufe? Na, ich werde dem FBI raten, einen gewissen Auguste Charpentier ganz genau unter die Lupe zu nehmen, und zwar pronto.«
» DAS KANNST DU NICHT MACHEN !«
Mit dem Kinn deutete ich auf den Garten. »Verabschiede dich davon … aber sei froh, die Erinnerungen kann dir niemand nehmen.«
» DAS KANNST DU DOCH DEINEM EIGENEN BRUDER NICHT ANTUN !«
» Tempus fugit, Bruder. Fang schon mal an zu packen.«
Er durchbohrte mich mit einem wütenden Blick, ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. » ICH WEISS, WAS HIER LÄUFT, CARSON. ICH SOLL DEINE KLEINE SCHNECKE SUCHEN. KLAPPER’ DOCH MAL DIE VERDAMMTEN WOHNWAGENPARKS AB .«
»Stone weiß, dass wir ihm in dem Punkt auf die Schliche gekommen sind.« Ich warf abermals einen Blick auf meine Uhr. »Jetzt hast du nur noch zwei Stunden und …«
» ES REICHT !«, heulte Jeremy, senkte den Kopf und legte ihn in die Hände. » ICH MUSS NACHDENKEN !«
Ich begab mich auf die Veranda und wartete dort. Zehn Minuten später rief Jeremy mich herein. Wie immer, wenn er sinnierte, lag er auf dem Boden und projizierte seine Gedanken an die Decke, als schaue er einen Film an.
»Wo ist sie?«, drängte ich ihn.
»Falls ich dir das verrate, darf ich hierbleiben. Und falls ich mein Heim verliere, verlierst du …«
»Okay«, willigte ich ein. »Jetzt rück’ schon raus mit der Sprache.«
Wieder starrte er an die Decke, als stünden dort die Fragen auf alle Antworten. »Sollte Stone zu der Überzeugung gelangt sein, dass der Angehörige eines Peinigers der geeignete Platzhalter für diesen Peiniger ist, ist er in eine Welt der Symbole abgetaucht und muss für das Finale den magischen Knoten lösen.«
»Hä?«
»Gelingt es ihm, einen Ort zu finden, an dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, ist alles möglich.«
»Damit kann ich nichts anfangen«, herrschte ich meinen Bruder an. »Geht es etwas konkreter?«
»Ich kann dir nicht sagen, wo Stone sich aufhält, Carson. Ich weiß nur, wie er empfindet. Er befindet sich jetzt an einem Punkt, an dem er gleichzeitig die Vergangenheit und Gegenwart spürt. Alpha und Omega.«
»Das Camp«, flüsterte ich. Der Kreis schloss sich.
*
Ich holte mein Handy heraus, um Krenkler und ihre Leute zu informieren, brachte es jedoch nicht über mich, die Nummer zu wählen. In ihrem Wahn, die Sache zu Ende zu bringen, war Krenkler wie ein wild gewordener Stier über Taiterhing, diesen verzweifelten Tropf, hergefallen, hatte sinnlos gewütet und war dabei weit übers Ziel hinausgeschossen. Stone, der längst alle Hemmungen verloren hatte, musste Cherry töten, um seine Seele zu retten. Da er sich nie und nimmer von seinem Ziel abringen lassen würde, konnte man mit ihm auch nicht verhandeln. In dem Moment, wo Krenkler nach ihrem Megaphon griff, würde Stone Cherry töten und sich damit ein für alle Mal von dem verhassten Colonel befreien.
Falls ich Krenkler informierte, musste ich damit rechnen, dass sich die Situation von einer Sekunde auf die andere zum Schlechten wendete. Handelte ich auf eigene Faust, behielt ich die Kontrolle über das Geschehen.
Ich brauchte knapp zwanzig Minuten, bis ich zu dem verrosteten Tor vor dem Camp gelangte. Weit und breit konnte ich kein anderes Fahrzeug erkennen, was mich
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