Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Prolog
TRÄUME IN DER FINSTERNIS
Tief unter der Erde lag Kesrondaia und träumte.
Mit wachsamem Blick betrat der Junge die Höhle. Zögernd setzte er einen Fuß vor den anderen, so als befürchte er, durch sein Eindringen irgendwelche Ungeheuer zu wecken, die unsichtbar in der Dunkelheit schliefen. Hoch über ihm wölbte sich die zerklüftete Decke des majestätischen Felsendoms und verlor sich, wie auch die Wände zur Linken und zur Rechten, in der Schwärze jenseits des schwachen Lichtkreises, in dessen Mitte und Schutz der Junge sich bewegte. Die Quelle des goldenen Schimmers war eine etwa faustgroße Kristallkugel, die sich an der Spitze eines schlanken Metallstabes befand, den er, mit der linken Hand fest umklammert, vor sich in die kalte Höhlenluft reckte.
In der rechten Hand hielt der Junge ein Schwert. Die blanke Klinge glänzte makellos, als sei sie noch nie in einem Kampf geführt worden, und von kunstfertiger Hand ins Metall eingelassene Kristallrunen zogen sich glitzernd auf beiden Seiten vom Heft bis zur Spitze hinauf. Die Waffe erweckte den Eindruck, sehr alt zu sein, sehr kostbar – und sehr mächtig.
Langsam drang der Junge in die Finsternis vor. Jeden Augenblick schien er einen plötzlichen Angriff zu erwarten, trotz oder vielleicht gerade wegen der beinahe unnatürlichen Stille, die um ihn herum herrschte. Unruhig schwenkte er den Stab und das Schwert mal hierhin, mal dorthin, und seine weit aufgerissenen Augen versuchten angestrengt, den lichtlosen Raum zu durchdringen, der ihn im Abstand von wenigen Schritten umlauerte. Doch welch namenlose Schrecken auch immer ihn mit gierigen Blicken aus dem Verborgenen verfolgen mochten, sie zeigten sich nicht.
Der Junge hatte sich ungefähr zwanzig Schritt in die Höhle hineingewagt, als, wie auf einen unhörbaren Befehl hin zum Leben erweckt, nicht weit vor ihm eine hohe, steinerne Felsnadel in düsterem Rot erblühte, einem gewaltigen Barren Eisen in der titanischen Esse eines Götterschmiedes gleich. Das unheilige Glühen, das den feurigen Strömen zähflüssigen Gesteins in den Eingeweiden der Erde geschuldet sein mochte, nahm an Kraft zu, bis es den sanft goldenen Schimmer der Lichtquelle des Jungen überstrahlte und einen weiten Kreis aus beinahe schwarzem, doch blutig rot beschienenem Fels enthüllte. Es war eine düstere, unheimliche Unterwelt aus riesigen, geborstenen Steinblöcken, die sich vor den Augen des Jungen auftat, das untergegangene Reich einer längst vergessenen Zivilisation.
Und dann trat hinter der Säule ein Mann hervor.
Er trug eine lange, dunkelblaue Robe aus schwerem Stoff. Seine vor dem Bauch gefalteten Hände verschwanden in den weiten Ärmelsäumen, und sein Gesicht lag im Schatten einer Kapuze verborgen, die der Mann über den Kopf gezogen hatte. Feine schwarze Dunstschleier umwaberten seine Gestalt, stiegen aus seiner schweren Robe auf und von dem Boden, den seine Füße berührten. Sie verliehen dem Mann etwas seltsam Unwirkliches, als sei er ein Albtraum, der seinen Weg in die Welt der Erwachten gefunden hätte. Der Mann machte ein paar Schritte auf den Jungen zu, hob dann die Hände und schlug die Kapuze zurück. Sein graues, scharf geschnittenes Antlitz wurde von wallendem, weißem Haar umrahmt, das im Licht der Felsnadel eine ungesund rötliche Farbe angenommen hatte. Und in tiefen Augenhöhlen loderte ein violettes Feuer, das von unversöhnlichem Hass kündete.
Beim Anblick des Fremden zuckte der Junge voller Entsetzen zurück. Erkennen und Unglauben huschten in rascher Folge über seine Züge. Er ließ den Stab fallen, der mit einem hellen, metallischen Klingen vom Felsboden abprallte, bevor er einige Schritt entfernt zur Ruhe kam. Dann ergriff der Junge sein Schwert mit beiden Händen und sprach ein einzelnes Wort: »Esdurial.«
Es war, als springe ein Funke vom Heft des Schwertes auf die Klinge über. Dann leckten plötzlich weiße Flammenzungen die silberne Schneide empor, umschmeichelten die Kristallrunen und brachten sie zum Funkeln. Und als sie die Spitze erreichten, explodierte Esdurial fauchend in einer Welle grellweißen Lichts, die sich sprunghaft, wie ein zuschlagendes Raubtier, ausbreitete, um die Dunkelheit der Höhle in einem weiten Kreis in Felsspalten und Bodenritzen zu jagen.
Aber die Finsternis um den Jungen und den Fremden ließ sich mitnichten vertreiben. Vielmehr erwies sie sich als dicht und undurchdringlich gleich eine Wand aus flüssigem Pech, gegen die das Licht anbrandete wie
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