Kreuzdame - Köln Krimi
klug, und ohne Karins geduldige Erklärungen hätte sie damals wohl niemals all die schwierigen Gleichungen verstehen und ihr Abitur machen können. Aber sie war unsere Freundin, sie gehörte dazu, und als sie ging, war es, als hätte man uns ein Stück unseres Lebens genommen.
Das Telefon klingelte mehrmals an diesem Morgen, aber wenn ich gedacht hatte, der Abend werde uns alle, wenn schon nicht zum Kartenspielen, so doch zu einer gemeinsamen Gedenkrunde zusammenführen, musste ich bald einsehen, dass ich mit meiner Traurigkeit allein bleiben würde. Martin kam weder zum Mittagessen, noch würde er den Abend mit mir verbringen, wie er mir kurz und knapp mitteilte, zum einen wegen einer dringenden Stationsbesprechung und zum anderen abends wegen des Ärztestammtischs, dem er sich nun, wenn wir ohnehin nicht Karten spielten, endlich einmal wieder anschließen wollte. Johannes würde auch dort sein.
Charlotte, die sich um die Mittagszeit noch einmal meldete und nun ganz gefasst klang, wollte sich mit Rainer zusammensetzen, um den neuen Katalog zusammenzustellen, und Karlheinz ließ sich in einem Anflug von Nächstenliebe den ärztlichen Notdienst aufbürden, um einem jungen Kollegen einen freien Abend zu verschaffen. »Was soll man auch sonst machen in solch einer Scheißsituation? Bringt ja alles nichts«, sagte er, bevor er, ohne sich von mir zu verabschieden, auflegte. Karin rief als Letzte an. Sie wollte mit ihren Musikern die Programmfolgen für die nächsten Veranstaltungen besprechen und käme vielleicht danach vorbei, sofern ich da wäre?
Natürlich würde ich da sein, wo hätte ich denn hingehen sollen? Warum zog sich jetzt jeder auf seine eigene Scholle zurück? Verband uns womöglich nach mehr als fünfunddreißig Jahren doch nur noch dieses vierzehntägige Kartenspiel, dem nach der vierten Frau jetzt auch der vierte Mann fehlte?
Ich wanderte ziellos durchs Haus, nahm viele Dinge in die Hand und blieb endlich im Wohnzimmer vor der antiken Truhe zwischen den beiden Fenstern stehen. Darin lagen die alten Fotoalben. Auf dem Deckel stand eine afrikanische Massaifrau, davor ein schwerer Kerzenleuchter aus dem Erbe meiner Eltern und rechts und links drei Silberrahmen mit Fotos von Verstorbenen. Für einen Moment war ich nicht sicher, ob es sich lohnte, aber dann, einem schnellen Entschluss folgend, stellte ich die Massaifrau, Kerzenleuchter und Fotos auf die Fensterbank, klappte den Deckel hoch und zog einige Alben heraus.
Schon bald fand ich, was ich suchte, und als ich die erste Seite aufschlug, kam es mir vor, als wäre es gestern gewesen: Anna mit dem tiefen Ausschnitt und dem Schlafzimmerblick, den sie beherrschte wie sonst keine von uns, daneben Charlotte, elegant und so schick, dass sogar meine Mutter sich hatte beeindrucken lassen und mich ermahnt hatte, sie mir zum Vorbild zu nehmen, in Garderobe, Gang und Ausdrucksweise. Neben mir Karin mit ihrer runden Brille, Schulsprecherin war sie gewesen und unkompliziert, bei Lehrern und Schülern gleichermaßen beliebt, hatte abschreiben lassen und dieses unbeschreiblich hohe Glucksen gelacht, von dem wir anderen uns anstecken ließen, das uns vereinte und zusammenhielt. Wann hatte sie zum letzten Mal so gelacht? Ich selbst sehe aus, als freute ich mich auf das Leben, blicke so gespannt und aufmerksam in die Kamera, dass ich mich jetzt fragte, ob ich mir dessen bewusst war, damals, oder ob es nur eine Momentaufnahme gewesen war, die vermuten ließ, ich gehörte zu denen, die sich schnell begeistern lassen?
Es war das Alter der heimlichen Blicke gewesen, der Sehnsüchte nach den Jungen vom Hansaringgymnasium, die mittags an der Haltestelle Ebertplatz standen, uns angelacht, Kommentare geflüstert, Zettel herübergereicht hatten. »Ich finde dich süß«, »Können wir uns mal treffen?« oder »Ruf mich an«.
Ich ging damals mit Rino, einem Philosophiestudenten, der sich gern mit mir unterhalten hatte, wegen der Frische meiner Gedanken, hatte er gesagt, und ich hatte wahrscheinlich gelacht. Dieser Freund hatte sich deutlich von dem Geplänkel mit den Gymnasiasten abgehoben und mich sozusagen auf eine höhere Ebene geschoben. Ein halbes Jahr gehörten wir zusammen. Meinen Eltern war dieser strebsame junge Mann sehr sympathisch gewesen, er hatte mich zu Hause abgeholt und pünktlich zurückgebracht, was meinen Vater beruhigte und meine Mutter entzückte. Jedoch waren die zehn Jahre, die zwischen uns standen, schließlich unüberwindbar und trennender geworden,
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