Kreuzdame - Köln Krimi
als sie es später gewesen wären, später, als ich mich in manchen Nächten nach seinen Armen sehnte und im Traum seine Stimme zu hören meinte und sein Lachen, das mir die Wärme zu schenken versprach, die mir im Alltag so fehlte.
Ich blätterte weiter zu den Bildern von der Abiturfeier der Jungen, die uns eingeladen hatten, uns, die wir noch zwei Schuljahre vor uns hatten. Charlotte schon damals mit Johannes, und Klaus hatte seinen Arm um Karins Schultern gelegt. Anna sah aus wie eine Coverschönheit, sie hatte schon mit siebzehn gewusst, wie man für den Fotografen posiert, und ich stand daneben.
Wir hatten uns großartig gefühlt, gebildet und hochbegabt, wir waren sicher gewesen, die Welt werde anders werden mit uns, wir hatten mit keinem Atemzug daran gedacht, wie jung wir waren, wir hatten kein Gefühl dafür, dass diese Zeit vergehen könnte, und vor allem nicht, dass wir irgendwann selbst so alt werden würden wie unsere Eltern und Lehrer schon waren. Wir waren die neue Generation, wir standen in den Startlöchern, um jeden und alles zu verändern, wir glaubten, es werde immer so bleiben, die Jugend, der Anfang, die lange Strecke des Lebens, die vor uns lag.
Das Album lag noch auf dem Tisch, als Karin am späten Nachmittag kam. Sie war blass und wirkte erschöpft, anders als auf ihren Werbefotos, wo sie aussah wie eine, die sich nie verändert. Charlotte hatte gesagt, Karin wäre diejenige von uns, die am wenigsten mit dem Älterwerden klarkäme, und fast hätte ich jetzt mit ihr darüber reden wollen. Aber, wer kam denn schon wirklich damit klar, dass täglich ein Stückchen verloren ging, an Schönheit, an Ausstrahlung, an Anerkennung, dass die Kinder uns verließen, nicht nur, um in die Schule zu gehen, sondern mit Sack und Pack, und dass danach in ihren leeren Zimmern nur noch der Staub und die Reste von Kaubonbons und Gummibärchen in den Ecken lagen?
Wie oft hatte ich mir das gewünscht in jenen Zeiten, als das Haus akustisch aus allen Nähten zu platzen schien, wenn aus einem Zimmer Geigenkrächzen getönt war, aus dem nächsten der Chorus von REM , während sich der Hund mit der Katze um den Quietschequatsch gezankt und unsere Kleinste darauf gewartet hatte, dass ich ihr eine neue Geschichte erzählte. Nicht verwunderlich, dass mein Mann immer öfter in der Klinik geblieben war, dass er seine Gutachten dort geschrieben hatte und nicht am heimischen Schreibtisch, den wir vor undenklichen Zeiten gekauft hatten in der Annahme, hier spiele sich das Leben ab, und er wolle daran teilhaben.
Karin zog den Mantel aus, warf ihn achtlos über einen Sessel und ließ sich in einen anderen hineinfallen, als wollte sie darin versinken. Jetzt erst bemerkte sie das Album, zog es zu sich herüber und flüsterte: »Mein Gott, wie jung wir waren.«
Als sie hochsah, waren ihre Augen voller Tränen.
»Warum geht alles vorbei?«, fragte sie. »Warum konnten wir diese Begeisterung nicht festhalten, warum ist heute alles so trübe, so gewöhnlich nach millionenfacher Wiederholung?«
Sie sah in den Garten hinaus und sprach leise weiter. »Weißt du«, sagte sie, »manchmal denke ich, tief in uns drin, in dir und mir und vielleicht auch in den anderen, da sind wir doch gar nicht älter geworden, oder? Es ist doch nur äußerlich, dieses Älterwerden, das sehen doch nur die anderen, du selbst bleibst doch die, die du warst, oder?
Ich jedenfalls habe mich nicht geändert, ich hatte schon immer dieses Gefühl, mir und den anderen beweisen zu müssen, dass ich ein Recht habe zu leben. Nur deshalb stecke ich mir Ziele, und wenn ich müde werde, schlapp und träge, dann gibt es in meinem Inneren jemanden, der die Peitsche hebt und mich weitertreibt. Das war schon immer so. Nur wenn ich auf der Bühne stehe, da, ja da fühle ich mich ganz leicht, so als könnte ich nur dort leben, dort, wo mich das Licht trifft, wo mir die Leute zuhören, wenn mein Gesang in ihre Herzen fließt, dann ist alles richtig, alles so wie es sein müsste, ein bisschen schwebend … nur … wenn ich dann heimkomme, und Karlheinz ist so ganz anders, als ich gedacht habe, anders, als er sein sollte, in diesem Moment, wenn ich so glücklich nach Hause komme, wenn er dann an seinem Computer sitzt und durch die medizinischen Neuerscheinungen surft und nicht mehr sagt als ›Hallo‹, nicht mal hochblickt, mich gar nicht ansieht, dann falle ich zusammen wie ein Luftballon, der in der Sonne schrumpelt, und von einem Moment zum anderen fühle ich mich
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