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Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Titel: Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisa Brand
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1.
    C ITY OF L ONDON
    M ITTWOCH, 9. A PRIL 1553
    Leben hieß Geräusch erzeugen. Zumal in einer Vollmondnacht. Schrilles Schreien. Trunkenes Grölen. Gelächter. Es hallte und lärmte ohne Unterlass in den Gassen beim Stadt- und Gefängnistor Newgate. Wer schwieg, war tot. Genauso tot wie die vom Smithfield, einer sumpfigen Ebene, nur durch einen kurzen Spaziergang und Londons Westmauern vom Kerkerviertel Newgate getrennt, wo man Treibvieh und Hochverräter ausweidete. Die Ochsen, nachdem sie geschlachtet waren, Glaubenssünder und Staatsfeinde, bevor man sie vierteilte, auf Stangen spießte und ihr zuckendes Gedärm verbrannte. Am Horizont ragten die Galgenbäume von Tyburn auf. Grund genug in Newgate, das Leben zu feiern, solange man es hatte.
    Auch in dieser Nacht quoll Zechlärm aus Winkeltavernen und Hurenschenken. Beim Gefängnis verwob sich Bänkelgesang mit dem Kreischen der Tollhäusler, die hinter einem Käfiggitter im Torbogen ausgestellt waren. Bis zur Kreuzung von Amen Corner, Ave Maria Lane und Pater Noster Row bei St. Pauls wehte das Stimmenkonzert von Newgate. Musik der Hölle, gefügt aus roher Lust und Schmerz.
    »Hier gehts lang«, sagte eine fröhliche Knabenstimme im Schatten der Kathedrale. Der Knirps wies mit schmutzigem Finger in die Warwick Lane. »He, wo seid Ihr hin?«
    Seine Augen suchten im Dunkeln nach einem Burschen in Pagentracht und Umhang. »Was ist? Wollt Ihr nun nach Newgate oder nicht?«
    Der Page löste sich zaudernd aus einem Seitenportal.
    »Können wir keinen Leuchtmann mieten?«, fragte er mürrisch.
    »Wozu? Der Mond ist rund, und bei Nacht verirrt sich keiner von denen her«, sagte sein dürrer Führer. Dann grinste er. »Bei Tag natürlich erst recht nicht. Wer braucht da einen Fackelträger? Keine Bange, ich kenn mich aus. Ich bin in Newgate geboren.« Der Stolz in seiner Stimme war unverkennbar.
    Was für ein Tölpel, dachte der Page. Dieser Nat oder Pat oder wie auch immer dieser Hungerdarm hieß, war bei Gott kein Beweis für die Gewitztheit der Londoner. Mehr als einen halben Pence würde er dem Bürschchen, das sich ihm auf einer Ufertreppe bei der London Bridge als Führer aufgedrängt hatte, nicht zahlen.
    »Nun macht schon«, drängelte der Junge. »Ich pass auf, dass Euch keiner den Hosenboden oder die Nase aufschlitzt.«
    »Mit deinem großen Maul? Wie alt bist du, Pat?«
    »Nat«, korrigierte der Junge und zuckte die Achseln. »Es heißt, ich wurde zwei Jahre vor König Heinrichs Tod geboren. Und wie heißt du?«
    »Das geht dich nichts an, und duze mich gefälligst nicht!« Der hochaufgeschossene Jüngling straffte die Schultern.
    Nat war also acht. Acht? Arsch und Gesangbuch! Er ließ sich von einem Kind führen. In dieser Stadt, einem Meer von neunzigtausend Menschen, galt es als Wunder, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreichte. Der naseweise Nat würde sicher nicht mal das zehnte schaffen. Nur gut, dass vom Land täglich neue Jugend, frisches, unverdorbenes Blut nachströmte. Jeder fünfte Engländer, so hieß es, lebte inzwischen in London, und die besten bei Hof. Der Gedanke erfüllte den Pagen mit Befriedigung. Er selber war sechzehn und – allen Hänseleien zum Trotz, weil er aus dem Norden kam und niederem Schafzüchteradel entstammte – in den königlichen Palästen von Greenwich, Westminster und Whitehall mächtigen Männern aufgefallen, die ihm geheime Botengänge zutrauten. So auch heute Nacht. Es war eine Sprosse auf der Leiter nach oben.
    Nat zerrte an seinem Umhang. Sofort nestelte der Page nach seinem Seitendolch. Er hatte damit so manches Lamm seines Vaters abgekehlt.
    »Wenn Ihr so langsam zieht, dann lasst ihn lieber stecken«, bemerkte Nat unbeeindruckt. Er fuhr sich mit der Handkante quer über die Gurgel. »Ihr würdets nicht überleben, wenn einer dieses Brotmesser zu Gesicht bekam.« Mit Kennermiene musterte er die Schneide. »War das teuer? Wenn ja, hat man Euch übers Ohr gehauen. Für einen halben Shilling und eine Kanne Bier klau ich Euch im Hafen ein besseres. Mit Sarazenerschliff. Oder eine rheinische Klinge, die Kölner liefern neben saurem Wein die beste Ware. Die vom Handelshaus van Berck sind unvergleichlich.«
    Der Page imitierte das Schnäuzen, das man in den Korridoren von Whitehall und Greenwich Palace für ihn übrig hatte, und spuckte trocken aus. Seine Kehle war zu eng, um anständig Rotz zu erzeugen. Er behalf sich mit einer verächtlichen Miene. »Schwatz nicht, geh weiter!«
    Der Junge hüpfte auf bloßen

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