Kreuzstein
die sehr unter der Verwitterung leiden. Hinzu kommen dann natürlich auch noch die schädlichen Auswirkungen der Umweltverschmutzung, zu der wir alle kräftig beitragen. Nehmen wir historische Bauwerke, wie hier eines der bekanntesten, die Akropolis in Athen. Sie hat gerade in den letzten 50 Jahren besonders unter Rauchgasverwitterung, hauptsächlich durch die Abgase der unzähligen Autos, zu leiden gehabt.«
Henno Allenstein trat an seinen Laptop und warf über den Beamer einige Bilder von stark verwitterten Marmoren einzelner Bauteile der Akropolis an die Wand. Anschließend zeigte er Beispiele für die Restaurierung.
»Die hierfür verwendeten Steine können heute noch in griechischen Marmorbrüchen abgebaut werden. Aber wir brauchen nicht erst nach Athen zu reisen, um diese äußerst aggressive Form der Verwitterung zu beobachten. Fast an allen historischen Gebäuden, auch in Deutschland, ist der Angriff der Säuren aus der Luftverschmutzung zu sehen. Die besten Vergleichsmöglichkeiten haben Sie auf den Friedhöfen. Hier sind fast alle Natursteine zu finden, und Sie sehen mit einem Blick auf das Datum, seit wann der Stein der Verwitterung ausgesetzt ist.«
Allenstein musste unwillkürlich grinsen, als er die leicht verwirrten Mienen seiner Zuhörer sah.
»Oder nehmen wir das prominenteste Beispiel, den Kölner Dom, an dem ständig restauriert werden muss. Da gibt es zum Beispiel Strebwerke, die aus Muschelkalk gefertigt sind, der aus Krensheim bei Lauda stammt. Das liegt östlich von Tauberbischofsheim.«
Allenstein präsentierte ein Bild von dem üppigen Strebwerk des Kölner Doms.
»Muschelkalk ist ein zum Teil mergeliger Kalkstein, der in einer bestimmten Zeit in der Erdgeschichte, der Trias, in einem flachen Meeresbecken abgelagert wurde. Er ist ein Paradebeispiel für die Anfälligkeit durch Verwitterungslösungen. Und …«
In diesem Moment ging oben die Tür auf, und seine Sekretärin kam mit leicht wiegenden Hüften die Stufen des Hörsaals herunter. Bei jedem Schritt klackten ihre Absätze auf dem Holzboden. Ganz wohl schien ihr nicht dabei zu sein, eine voll besetzte Vorlesung ihres Chefs zu stören. Die Studenten reckten die Hälse, um die willkommene Abwechslung genau zu verfolgen. Auf der vorletzten Stufe hielt Frau Hörnig wie zur Entschuldigung ein Handy hoch und überreichte es Allenstein, der sie ein wenig irritiert anschaute. Es war sein eigenes Handy, das er während der Vorlesung grundsätzlich im Sekretariat hinterlegte.
»Ein Anruf, Herr Professor.«
»Ach ja! Und wir fliegen für so was raus!«, murrte ein studentischer Vertreter aus einer der hinteren Reihen. Ein amüsiertes Raunen ging durch die Gruppe, aber schnell wurde es mucksmäuschenstill, als deutlich wurde, dass das Handy sehr laut gestellt und das Gespräch bis weit in den Hörsaal hinein zu verstehen war.
»Guten Tag, Herr Professor Allenstein«, meldete sich eine weibliche Stimme, mit einem Unterton, der erst einmal jeden Gedanken an irgendeinen Widerstand im Keim erstickte. »Mein Name ist Gabriele Kronberg. Ich bin Kommissarin bei der Kripo Köln und bitte Sie umgehend nach Bad Honnef zu kommen, auch wenn Sie, wie mir Ihre Sekretärin beteuerte, gerade Vorlesung haben. Lassen Sie sich vertreten. Ein Fahrzeug ist bereits auf dem Weg zu Ihnen.«
Allenstein war Professor, und als solcher verstand er sich auch. Das hieß für ihn, dass er eine Institution war, die grundsätzlich niemand kommandieren konnte. Nach zwanzig Jahren an der Hochschule mit täglichem Kampf gegen Kollegen an der Uni, wissenschaftlichen Disputen und Anfeindungen auf Tagungen und den Auseinandersetzungen mit Studierenden hielt er sich für einen psychisch gestählten Mann in den besten Jahren, der sich nicht mehr so leicht von einem Gegenüber beeindrucken ließ. Schließlich war er der Chef einer großen Arbeitsgruppe, hielt neben Vorlesungen regelmäßig öffentliche Vorträge vor einem großen kritischen Publikum und war sogar als Rektor im Gespräch.
Jetzt stand er mit dem Handy in der Hand vor seiner triumphierend dreinblickenden Frau Hörnig und sechzig Studenten, die vermutlich jedes Wort mitbekommen hatten, und musste erst einmal tief Luft holen.
»Moment, Moment!«, trotzte er in das Gerät. »Da müssen Sie schon warten, bis die Vorlesung zu Ende ist. Und würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen, mir zu erklären, worum es überhaupt geht und wie Sie gerade auf mich kommen?«
Plötzlich gefiel er sich in seiner Rolle.
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