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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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»Du weißt, Marie«, sagte er, »heute ist der Verwalter vom Tambowschen Gut gekommen und hat mir gesagt, daß man für den Wald schon achtzigtausend geboten habe.« Dann erzählte er mit erregter Miene von der Möglichkeit, in nächster Zeit sein Familiengut Otradno zurückzukaufen. »Noch zehn Jährchen, und ich hinterlasse die Kinder ... in vortrefflichen Umständen.«
    Marie hörte zu und verstand alles, was er sagte. Sie wußte, daß er sie zuweilen befragte, was er gesagt habe, wenn er auf diese Weise laut dachte, und daß er sich ärgerte, wenn er bemerkte, daß sie an etwas anderes gedacht hatte. Sie gab sich alle Mühe, weil sie sich gar nicht dafür interessierte, wovon er sprach. Sie sah ihn an, und wenn sie auch nicht an anderes dachte, so war doch ihre Empfindung bei etwas anderem. Sie empfand eine gehorsame, zärtliche Liebe zu diesem Mann, welcher niemals alles begreifen konnte, was sie begriff, und eben deshalb liebte sie ihn noch stärker und mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Aber noch ein anderes Gefühl nahm sie in Anspruch. Sie dachte an ihren Neffen und verglich ihn mit ihren eigenen Kindern, aber sie verglich ihre Gefühle für sie und fand zu ihrer Betrübnis, daß in ihrem Gefühl für Nikolai etwas fehlte. Zuweilen kam ihr der Gedanke, dieser Unterschied komme vom Alter her, aber sie fühlte sich dennoch schuldig ihm gegenüber. Sie versprach sich innerlich selbst, sich zu bessern und das Unmögliche zu vollbringen, das heißt in diesem Leben ihren Mann, ihre Kinder und alle ihr Nahestehenden so zu lieben, wie Christus die Menschheit geliebt hat. Die Seele der Gräfin Marie strebte immer nach dem Unendlichen und Vollkommenen, deshalb konnte sie niemals Ruhe finden. Auf ihrem Gesicht erschien jetzt der starre, ernste Ausdruck verborgener Seelenleiden.
    »Mein Gott, was wird aus uns, wenn sie stirbt, wie es mir immer scheint, wenn sie eine solche Miene hat?« dachte Nikolai und sprach vor dem Heiligenbild sein Abendgebet.
12
    Als Natalie mit ihrem Mann allein geblieben war, unterhielten sie sich auch so, wie nur Mann und Frau sich unterreden können, das heißt, indem sie mit ungewöhnlicher Klarheit und Schnelligkeit einander verstanden und ihre Gedanken mitteilten auf einem allen Regeln der Logik widersprechenden Wege, ohne Vermittlung der Überlegung und Schlußfolgerung, sondern auf ganz eigentümliche Weise. Natalie war sehr daran gewöhnt, auf diese Weise mit ihrem Manne sich zu unterhalten, daß ein logischer Gedankengang Peters ein untrügliches Anzeichen dafür war, daß zwischen ihr und ihrem Manne etwas nicht richtig war. Wenn er etwas behauptete, überzeugend und ruhig sprach, so wußte sie, daß dies unfehlbar zum Zank führte.
    Als sie allein geblieben waren, trat Natalie mit weitgeöffneten glänzenden Augen leise auf ihn zu, ergriff rasch seinen Kopf, drückte ihn an ihre Brust und sagte: »Jetzt, jetzt bist du ganz mein, ganz mein, du kannst mir nicht entgehen!« Damit begann jenes Gespräch, das allen Regeln der Logik widersprach – schon deshalb, weil zu gleicher Zeit von ganz verschiedenen Gegenständen die Rede war. Diese gleichzeitige Betrachtung von Verschiedenem hinderte nicht nur keineswegs die Klarheit des Verständnisses, sondern war im Gegenteil das sicherste Anzeichen dafür, daß sie einander vollkommen verstanden. Wie in einem Traumgesicht alles unwahr, unsinnig und widersprechend ist außer dem Gefühl, welches das Traumgesicht lenkt, so ist auch in einer Mitteilung, die den Gesetzen der Vernunft widerspricht, nicht die Rede folgerichtig und klar, sondern nur das Gefühl, das die Rede lenkt.
    Natalie erzählte Peter von dem Leben und Treiben ihres Bruders, wie sie in seiner Abwesenheit sich gegrämt, und wie sie Marie noch mehr lieben gelernt habe, und daß Marie in allen Beziehungen besser als sie selbst sei. Diese Worte Natalies waren aufrichtig, aber indem sie sie aussprach, verlangte sie auch von Peter, daß er sie dennoch Marie und allen anderen Frauen vorziehen, und daß er ihr das wiederholen solle, besonders jetzt, nachdem er viele Damen in Petersburg gesehen hatte.
    Indem Peter auf Natalies Worte antwortete, erzählte er ihr, wie unerträglich ihm in Petersburg die Abendgesellschaften und Diners mit Damen gewesen seien.
    »Ich habe verlernt, mit Damen zu sprechen«, sagte er.
    Natalie blickte ihn durchdringend an und fuhr fort: »Marie ist so entzückend! Und wie sie die Kinder versteht! Sie scheint in ihrer Seele zu lesen! Gestern zum Beispiel war

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