Krieg und Frieden
mehr als eine Stunde dauerte, äußerte Rostow nichts darüber und verbrachte den Rest des Tages in düsterer Stimmung in der Gesellschaft der sich wieder um ihn sammelnden Offiziere, erzählte, was er wußte, und hörte die Erzählungen anderer an. Denissow beobachtete während des ganzen Abends ein düsteres Schweigen.
Spät am Abend machte sich Rostow auf den Heimweg und fragte Denissow, ob er ihm keinen Auftrag zu geben habe.
»Ja, warte ein wenig«, sagte Denissow, blickte sich nach den Offizieren um und nahm seine Papiere unter dem Kissen hervor. Dann ging er zum Fenster, wo ein Tintenfaß stand, und setzte sich nieder, um zu schreiben.
»Man kann nicht gegen den Strom schwimmen«, sagte er und reichte Rostow ein großes Kuvert. Das war die Bittschrift an den Kaiser, welche der Auditor verfaßt hatte, in welcher Denissow, ohne die Proviantverwaltung zu beschuldigen, nur um Begnadigung bat.
»Sende es ab!« sagte er mit gezwungenem, krankhaftem Lächeln.
86
Nachdem Rostow zum Regiment zurückgekehrt war und dem Oberst über den Stand der Sache Denissows berichtet hatte, fuhr er mit dem Brief an den Kaiser nach Tilsit.
Am 15. Juni (25. Juni) hatten der französische und der russische Kaiser eine Zusammenkunft in Tilsit. Boris hatte den General, bei dem er Adjutant war, gebeten, ihn der Suite, die in Tilsit anwesend sein sollte, zuzuteilen.
»Ich möchte den großen Mann sehen!« sagte er.
»Sie meinen Bonaparte?« fragte ihn lächelnd der General.
Boris sah seinen General fragend an und begriff sogleich, daß das eine Scherzprobe war.
»Fürst, ich spreche vom Kaiser Napoleon«, erwiderte er.
Der General klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Du wirst es weit bringen!« sagte er und nahm ihn mit sich.
Boris befand sich unter den wenigen, welche Zeugen der Zusammenkunft der beiden Kaiser auf dem Niemen waren. Er sah die Flöße mit dem Namenszeichen und die Überfahrt Napoleons nach dem andern Ufer, an der französischen Garde vorbei. Er sah das nachdenkliche Gesicht des Kaisers Alexander, während er schweigsam in einem Krug am Ufer des Niemens saß und die Ankunft Napoleons erwartete. Er sah, wie beide Kaiser in Boote stiegen, und wie Napoleon, der zuerst auf dem Floß ankam, mit raschen Schritten Alexander entgegenging, ihm die Hand reichte, und wie beide in dem Pavillon verschwanden. Seit seinem Eintritt in die höhere Welt hatte Boris die Gewohnheit angenommen, aufmerksam zu beobachten, was um ihn her vorging, und es aufzuzeichnen. Er hörte auch aufmerksam auf die Worte, welche vornehme Personen sprachen. Als die Kaiser in den Pavillon traten, blickte er auf die Uhr und vergaß nicht, wieder darauf zu sehen, als Alexander heraustrat. Die Zusammenkunft hatte eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten gedauert, und dies schrieb er noch an demselben Abend mit anderen Tatsachen nieder, welche ihm von historischer Bedeutung zu sein schienen. Da die Suite der beiden Kaiser sehr klein war, so war es wichtig für einen Menschen, der nach Erfolg im Dienst strebte, sich zu dieser Zeit in Tilsit zu befinden, und Boris hatte das Gefühl, daß seine Stellung sich schon sehr befestigt habe. Man kannte ihn nicht nur, sondern man gewöhnte sich auch an ihn, zweimal hatte er Aufträge an den Kaiser selbst, so daß auch der Kaiser ihn von Ansehen kannte, und alle der höchsten Person Nahestehenden nicht wie früher für ihn unzugänglich waren, da sie ihn für eine neue Persönlichkeit hielten, sondern sich sogar gewundert hätten, wenn er nicht zugegen gewesen wäre.
Boris wohnte mit einem anderen Adjutanten, einem reichen polnischen Grafen, Schilinsky, zusammen, der in Paris erzogen worden war und die Franzosen leidenschaftlich liebte. Fast jeden Tag während ihrer Anwesenheit in Tilsit waren französische Offiziere von der Garde und dem Generalstab bei Schilinsky und Boris zu Gast. Am 24. Juni (6. Juli) gab Schilinsky ein Souper, an welchem ein Adjutant Napoleons, einige Gardeoffiziere und ein junger Mann aus einer altaristokratischen französischen Familie, ein Page Napoleons, teilnahmen. An demselben Abend kam Rostow unter dem Schutze der Dunkelheit in bürgerlicher Kleidung in Tilsit an und trat in das Quartier von Schilinsky und Boris. Rostow, wie die ganze Armee, vermochte die früheren Feinde noch nicht als Freunde anzuerkennen, wie das Hauptquartier und Boris. Noch vor kurzem hatte Rostow mit einem Kosakenoffizier sich darüber gestritten, ob Napoleon, wenn er gefangen würde, nicht wie ein Kaiser,
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