Krieg und Frieden
Wenn man auch immer sagt, die Seele geht in den Himmel ein ... wir wissen doch alle, daß es keinen Himmel gibt, sondern nur eine Atmosphäre.«
Wieder unterbrach die Baßstimme den Artilleristen.
»Geben Sie lieber einmal Ihren Kräuterschnaps her. Tuschin!« sagte er.
»Ah, das ist derselbe Kapitän, den wir in Strümpfen überraschten«, dachte Fürst Andree.
»Mit Vergnügen«, sagte Tuschin. »Aber dennoch wird das zukünftige Leben ...« Er wurde unterbrochen, ein scharfes Pfeifen kam näher und näher, deutlicher und rascher, und eine Kanonenkugel schlug mit gewaltiger Kraft in die Erde ein, nicht weit von der Hütte. Die Erde schien zu stöhnen unter dem mächtigen Schlag. In demselben Augenblick stürzte aus der Erdhütte vor allen andern der kleine Tuschin heraus. Sein gutmütiges, kluges Gesicht war etwas bleich. Hinter ihm kam der Besitzer der Baßstimme, ein schneidiger Infanterieoffizier, und lief nach seiner Kompanie, indem er sich unterwegs die Uniform zuknöpfte.
38
Fürst Andree hielt zu Pferde in der Batterie und sah nach dem Rauch des Geschützes, aus welchem die Kugel gekommen war. Seine Augen schweiften über die Ebene hin. Er sah nur, daß die bisher unbeweglichen Massen der Franzosen sich in Bewegung setzten und daß links wirklich eine Batterie stand. In dieser erhob sich wieder eine kleine Rauchwolke, zwei Reiter, wie es schien Adjutanten, ritten den Berg hinauf. Wahrscheinlich zur Verstärkung der Kette rückten zwei kleine Kanonen des Feindes vor. Noch war der Rauch des ersten Schusses nicht verflogen, als eine zweite Rauchwolke sich erhob, von dem Donner des Geschützes gefolgt. Fürst Andree wandte sein Pferd und galoppierte zurück nach Grunt, um den Fürsten Bagration aufzusuchen. Er hörte, wie die Kanonade lauter und heftiger wurde. Die Unsrigen antworteten.
Napoleons Adjutant mit dem scharfen Brief war eben bei Murat angekommen, und dieser erkannte beschämt seinen Irrtum. Um ihn wieder gutzumachen, setzte er sogleich seine Truppen gegen das Zentrum in Bewegung und suchte die geringfügige, ihm gegenüberstehende Streitmacht auf beiden Flanken zu umfassen, in der Hoffnung, sie noch vor Ankunft des Kaisers zu vernichten.
»Es geht los«, dachte Fürst Andree und fühlte, wie sein Blut zum Herzen strömte, »aber wo werde ich wie Napoleon einst bei Toulon meine Gelegenheit zur Bewährung und Auszeichnung finden?« Als er an den Soldaten vorüberritt, welche vor vier Stunden Grütze aßen und Wasser tranken, sah er überall dieselben raschen Bewegungen und auf allen Gesichtern dieselbe Aufregung, welche auch in seinem Herzen herrschte. »Es geht los, schrecklich und fröhlich!« sagten die Gesichter jedes Soldaten und Offiziers. Noch ehe er wieder die Schanze erreichte, erblickte er im Abendlicht des düsteren Herbsttages einen Haufen Reiter, die ihm entgegenkamen. Der vorderste in Mantel und Mütze ritt auf einem weißen Roß. Das war Fürst Bagration. Als er Fürst Andree erblickte, nickte er ihm mit dem Kopf zu und blickte in die Ferne, während Fürst Andree ihm mitteilte, was er gesehen hatte. Sie ritten zu derselben Batterie, von welcher aus Bolkonsky das Schlachtfeld überschaut hatte.
»Welche Batterie?« fragte Fürst Bagration einen Feuerwerker. In Wirklichkeit meinte er: »Seid ihr nicht etwa ängstlich geworden?« Der Feuerwerker begriff das.
»Batterie Tuschin, Exzellenz!« schrie er mit lauter Stimme.
»Gut«, erwiderte Bagration und ritt zu dem äußersten Geschütz. In demselben Augenblick donnerte ein Schuß aus demselben. Durch den Rauch, welcher das ganze Geschütz einhüllte, sah man die Artilleristen, wie sie die Kanone ergriffen und rasch wieder auf ihre frühere Stelle vorschoben. Ein kleiner, schmächtiger Mann, Offizier Tuschin, ritt vorwärts, ohne den General zu bemerken, und sah unter seiner kleinen Hand in die Ferne.
»Gebt noch zwei Linien zu, dann wird es richtig sein!« rief er mit seiner dünnen Stimme. »Nummer zwei«, quiekte er.
Bagration rief den Offizier zu sich, und Tuschin kam schüchtern, mit ungeschickten Bewegungen. Er grüßte nicht militärisch, sondern so, wie ein Geistlicher den Segen erteilt. Obgleich Tuschins Geschütze dazu bestimmt waren, die Schlucht zu bestreichen, schoß er doch mit Brandgranaten nach dem vor ihm liegenden Dorf Schöngraben, vor welchem sich große Massen von Franzosen bewegten.
Niemand hatte Tuschin befohlen, wohin und womit er schießen solle. Er hatte sich mit seinem Feldwebel beraten, zu dem er
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