Kristall der Macht
einem Schwert durchtrennt. Jamak sprang zurück, und eine Gruppe aufgebrachter Krieger stürmte ins Zelt. Noelani war noch zu benommen, um zu verstehen, was sie riefen. In den Augen der Krieger aber sah sie, wie sich Besorgnis zuerst in Schrecken, dann in Entsetzen und schließlich in Wut verwandelte. Einige ließen die Schwerter sinken und näherten sich vorsichtig dem Tisch, ganz so als fürchteten sie, selbst in Stein verwandelt zu werden, wenn sie den Figuren zu nahe kamen. Andere hoben ihre Schwerter mit wildem Blick und kamen auf Jamak zu. Dieser hatte sich schützend vor Noelani gestellt, die immer noch am Boden saß. Den Ständer der Wasserschale abwehrbereit vor sich haltend, erwartete er unbeholfen den Angriff der Krieger, die einen dichten Ring um ihn und Noelani bildeten und immer näher rückten.
»Ihr elenden Verräter!« Der Anführer der Gruppe schäumte vor Wut. »Was habt ihr getan? Das werdet ihr büßen.«
»Wir … wir mussten es tun«, versuchte Jamak sich an einer Erklärung. »Es war …«
»… der einzige Weg, um einen wahren Frieden zu erlangen.« Noelani erhob sich und beendete den Satz an Jamaks Stelle. Sie fühlte sich schwach. Der Wunsch, ausruhen zu dürfen, war übermächtig, aber sie riss sich zusammen und erwiderte den hasserfüllten Blick des Kommandanten stolz und ohne Reue. »Sie sind nicht tot!«, sagte sie, obwohl es noch niemand ausgesprochen hatte. »Sie sind in einer Zwischenwelt. Dort, wo auch die Rakschun sind. Sie verhandeln gerade miteinander.«
»Das kannst du deinen Ahnen erzählen.« Der Kommandant glaubte ihr kein Wort. »König Azenor würde eher sterben, als mit einem Rakschun zu verhandeln.«
Noelani sah, wie Jamak zu einer Antwort ansetzte, aber sie kam ihm zuvor. »Und doch ist es der König selbst, der die Verhandlungen führt.«
»Du lügst!« Der Kommandant gab seinen Männern ein Zeichen. »Tötet sie!«
Jamak hob den schmiedeeisernen Ständer in Erwartung der ersten Schwerthiebe.
»Wenn ihr uns tötet, kann ich sie nicht wieder zum Leben erwecken!«, rief Noelani über den anschwellenden Lärm hinweg. »Nur ich kenne die wahre Macht der Kristalle. Ich allein kann sie verwenden, um Leben zu nehmen oder zu schenken.« Ein erstes Schwert krachte klirrend auf den Eisenständer.
»Wartet!« Der Kommandant bahnte sich einen Weg durch die Reihe der Krieger und maß Noelani mit einem prüfenden Blick. »Du kannst sie zurückholen?«, fragte er argwöhnisch. »Auch den König? Die Figur ist zerstört worden.«
»Ja.« Noelani verzichtete auf weitere Erklärungen.
»Wann?«
Noelani überlegte kurz, dann kam ihr ein Gedanke: »Wenn die letzten Krieger aus Baha-Uddin das Lager der Rakschun verlassen haben.«
»Es sind nur ein paar Wachen dort. Es wird bald dunkel, die meisten sind bereits in ihre Zelte zurückgekehrt.«
»Alle«, beharrte Noelani. »Sie müssen alle fort sein.«
»Du bist es nicht, die hier die Bedingungen stellt«, grollte der Kommandant.
»Und du bist es nicht, der das da«, Noelani deutete auf die versteinerte Tafelrunde, »ungeschehen machen kann. Räumt das Rakschunlager, und ich werde den Bann lösen.«
Der Kommandant seufzte und bedeutete zwei Kriegern mit einem Kopfnicken, das Zelt zu verlassen. »Lauft zum Ufer und sagt den Wachen, sie sollen das Signal zum Räumen geben«, sagte er und fügte mit einem misstrauischen Blick auf Noelani hinzu: »Wir warten hier.«
Kaum fünf Minuten später schallte ein Hornsignal durch die Nacht.
»Zufrieden?« Der Kommandant blickte Noelani mürrisch an. »Jetzt bist du an der Reihe.«
Noelani tauschte einen Blick mit Jamak, der sie verwundert und besorgt zugleich anschaute. Er wusste nicht, was sie vorhatte, und das war auch besser so, denn er würde es gewiss zu verhindern versuchen. Noelani setzte sich. Sie war vorbereitet auf das, was zu tun war. Angst hatte sie trotzdem. Ohne dass jemand es bemerkt hatte, hatte sie eines der scharfen Messer an sich genommen, die auf der Tafel zum Schneiden des Bratens bereitgelegen hatten. Nun war es Zeit, es seiner Bestimmung zuzuführen.
»Noelani!« Jamak schien das Unheil zu ahnen, als er sah, wie sie das Messer zusammen mit fünf Kristallen unter ihrem Gewand hervorholte und vor sich auf den Boden legte. Bitte, tu das nicht, schienen seine Blicke zu sagen. Die Liebe und Zuneigung, die sie in seinen Augen fand, machten ihr die Entscheidung doppelt schwer, gereichten aber nicht dazu, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Ein Leben für
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