Kristall der Macht
Hunderte.
Ihr Leben.
Sie nahm das Messer zur Hand und starrte die blitzende Klinge an. Im schwindenden Licht glaubte sie darin Kaoris Gesicht zu sehen, die ihr aufmunternd zulächelte. »Hab Mut«, meinte sie ihre Schwester in Gedanken sagen zu hören. »Alles wird gut. Ich warte auf dich.«
Noelani seufzte. Sie wusste, dass sie am Ende ihrer Reise angekommen war. Alles schien vorherbestimmt, und sie spürte tief in sich, dass sie nie wirklich eine Wahl gehabt hatte. Wie von selbst tauchten die Bilder der vergangenen Monate noch einmal in ihren Gedanken auf. Monate voller Leid, Entbehrungen und zerstörter Hoffnungen.
Der giftige Rauch, der ihr Volk und ihre Heimat fast völlig vernichtet hatte, und schließlich die Hoffnung, die alle in eine Flucht von der Insel gesetzt hatten. Der Sturm, in dem so viele umgekommen waren, die unverhoffte Rettung und das Land, das ihnen zur Heimat hatte werden sollen. Der Betrug des Königs und Tausende Krieger eines fremden Volkes, die durch die Macht der Kristalle ihr Leben hatten lassen müssen. All das reihte sich in ihren Gedanken aneinander wie Perlen an einer Schnur, immer begleitet von dem bitteren Beigeschmack der Hilflosigkeit und des Versagens. Wie oft hatte sie sich gewünscht, helfen zu können. Wie oft hatte sie die Götter angefleht, ihr Leben zu nehmen und die anderen zu verschonen, aber nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie damit etwas ändern oder gar bewirken können.
Bis jetzt!
Hier und jetzt hatte sie die Möglichkeit, alles zum Guten zu wenden. Nicht nur das Schicksal ihres Volkes, sondern auch das der Rakschun und der Menschen von Baha-Uddin.
Endlich.
Noelani spüre, wie die Entschlossenheit in ihr weiter anschwoll und die Furcht verdrängte.
Was zählte schon ein Leben, wenn dafür Hunderte gerettet werden konnten?
Ihre Hände umklammerten das Heft des Messers so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Klinge war auf ihre Mitte gerichtet. Sie zitterte nicht. Ein letztes Mal hob sie den Blick und schaute Jamak an, der wie erstarrt vor ihr stand und sich verzweifelt an die Hoffnung klammerte, dass nicht geschehen würde, was er in ihren Augen sah.
»Ich danke dir für alles«, sagte sie leise, schloss die Augen – und stach zu.
»Neiiiiiin!« Jamaks Aufschrei begleitete den Schmerz, der wie glühendes Eisen durch ihren Körper floss und ihr für einen Augenblick die Besinnung raubte. Dann war Jamak bei ihr, schloss sie in die Arme und hielt ihre Hand. Als sie die Augen öffnete, schaute sie in sein Gesicht, das von Kummer und Verzweiflung gezeichnet war. Hinter ihm standen die Krieger, allen voran der Kommandant mit zornesrotem Gesicht. »Diese feige Hure hat uns betrogen«, wetterte er, außer sich vor Zorn. »Sie flüchtet sich in den Tod, statt ihre Taten wie versprochen rückgängig zu machen. Diese verdammte …«
»Schweig!« Noch nie hatte Noelani eine solche Kraft in Jamaks Worten verspürt. Eine Kraft, die nicht nur den Kommandanten, sondern auch alle anderen schlagartig verstummen ließ. Es wurde still. Totenstill.
Jamak nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich ihr zu. »Warum?«, schluchzte er unter Tränen. »Warum?«
»Weil nur dann alles gut wird.« Noelani tat sich schwer, die Worte hervorzubringen. Leise, viel zu leise kamen sie ihr über die Lippen, während sie gleichzeitig spürte, wie das Leben in stetem Strom aus ihr herausfloss. Schmerzen spürte sie keine, nur eine große Schwere, die sich unaufhaltsam in ihrem Körper ausbreitete. Aber noch wollte sie nicht gehen. Nicht bevor sie gesehen hatte, dass ihr Opfer nicht vergebens war. »Der … der König …«, flüsterte sie matt. »Ich … ich will ihn sehen.«
Jamak verstand. »Macht Platz!«, wies er die Krieger an, die Noelani den Blick auf die Tafel versperrten, und unterstrich die Worte mit einer herrischen Geste. »Weg da! Verschwindet!«
Die Krieger gehorchten wie unter einem Bann. Nacheinander traten sie zur Seite, bis sich eine Gasse auftat, an deren Ende die versteinerte Tafelrunde zu sehen war.
»Heb … mich hoch.« Noelani war so schwach, dass ihr die Worte kaum noch von den Lippen kamen. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, ihr Kopf war leer. Aber noch hielt sie die Augen offen. Jamak richtete sie zum Sitzen auf und stützte sie. Ihr Blut machte seine Hände schlüpfrig, aber das kümmerte ihn nicht.
»Warum?«, fragte er noch einmal unter Tränen. »Warum hast du das getan?«
»Darum!« Noelani spürte, wie eine große Wärme durch ihren
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