Eine Frau mit Geheimnis
PROLOG
St. Petersburg, 1812
Die dritte Tür führte in einen weiteren grandiosen Raum. Menschenleer. So wie die Zimmer, die der junge Kavallerist bisher durchquert hatte. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterzugehen.
Tapfer straffte er die Schultern. Hier würde er keine Feinde antreffen, oder? Vor der Tür am Ende des Raums zögerte er, nur sekundenlang. Dann schüttelte er den Kopf, ermahnte sich, seinen Dämonen zu begegnen, und öffnete die Tür.
„Ah, Soldat Borisow, endlich.“ Der Sprecher, ein korpulenter Mann in einer Galauniform, lächelte. Aber er salutierte nicht. „Ich bin Fürst Wolkonskij, der Hofmarschall Seiner Kaiserlichen Majestät.“
Zackig schlug der Soldat die Hacken zusammen. „Exzellenz, ich …“ Beklommen verstummte er. In jedem der menschenleeren Räume war sein Unbehagen gewachsen.
„Seine Majestät erwartet Sie, junger Mann.“ Besänftigend nickte Wolkonskij ihm zu. „Er hat schon viel von Ihren Aktivitäten gehört. Von Ihrem vorbildlichen Mut. Wenn uns nur Zehntausende solcher Soldaten dienen würden! Dann hätten wir die Welt schon längst von der französischen Geißel befreit.“
Brennend stieg das Blut in Borisows Wangen, und er verfluchte sich. Warum passierte ihm das immer wieder? Nur Mädchen erröteten, kampferprobte Kavalleriesoldaten wohl kaum …
Der Hofmarschall wartete auf eine Antwort.
„Vielen Dank, Exzellenz, Sie sind sehr großzügig. Aber im Heer Seiner Majestät gibt es viele tapfere Männer …“
„In der Tat, Borisow. Doch nur wenige sind so jung und so tüchtig wie Sie. Nehmen Sie Platz, mein Junge, ich werde Seine Majestät über Ihre Ankunft informieren. Im Augenblick ist der Zar beschäftigt. Aber er wird Sie sicher bald empfangen.“ Der Hofmarschall klopfte leise an eine Tür und betrat den angrenzenden Raum. Ebenso leise schloss er die Tür.
Da drin sitzt Zar Alexander. Bei diesem Gedanken erschauerte Borisow. Höchstpersönlich. Und ich werde ihm begegnen. Heute …
Er begann umherzuwandern. So wie vor einer Schlacht konnte er nicht still sitzen.
Erst als die Tür aufschwang, fragte er sich, was er dem Zaren sagen sollte. Wenn er gefragt wurde …
„Soldat Borisow, Seine Majestät wird Sie jetzt empfangen.“
Mühsam schluckte Borisow, zwang sich zu einer militärischen Haltung und überquerte die beängstigende Schwelle.
An den Wänden des großen Zimmers hingen mehrere Gemälde und Spiegel. Aber es gab fast keine Möbel. In einer Ecke, vor den hohen Fenstern, stand ein reich geschnitzter vergoldeter Schreibtisch, dahinter ein einziger Stuhl. Offenbar durften sich die Besucher dieses Raums nicht setzen.
Eine Gestalt erhob sich hinter dem Schreibtisch und ging in die Mitte des Zimmers. Wie angewurzelt blieb Borisow bei der Tür stehen, die sich hinter ihm schloss. Nun war er allein. Mit dem Zaren.
„Treten Sie vor, Borisow, lassen Sie sich im Licht anschauen.“
Der Soldat verneigte sich und gehorchte.
Im Gegensatz zu Borisow trug der Zar sorgsam gestutzte Bartkoteletten. Hoch aufgerichtet stand der Monarch da, eine imposante Erscheinung in seiner Uniform. Mit hellen, klugen Augen musterte er den jungen Mann.
Gewiss sieht er die geflickte Stelle an meinem Rock, wo der Säbel ein Loch gerissen hat, dachte Borisow bedrückt und wünschte, er hätte sich eine neue Jacke leisten können.
„Während des Kriegs haben wir viel von Ihren couragierten Aktionen gehört“, fuhr der Zar fort. „Wie oft nahmen Sie an diversen Kavallerie-Operationen teil? Fünf Mal?“
Borisows Kehle war so trocken, dass er nicht zu sprechen vermochte, und er nickte nur.
„Wie ich den Berichten Ihrer Kommandanten entnehme, kennen Sie keine Furcht. In jedes Scharmützel stürzen Sie sich mit wahrer Todesverachtung. Selbst wenn es nicht Ihre Schwadron ist, die mit der Attacke beauftragt wurde.“ Aufmunternd lächelte der Zar ihn an.
„Majestät, das war … eh … ein Irrtum“, stammelte Borisow.
Schweigend hob Zar Alexander die Brauen.
„Nun, es – es war meine erste Schlacht, Majestät. Niemand hatte mir mitgeteilt, nur gewisse Schwadronen würden nacheinander angreifen. Nach der ersten Attacke hielt ich es für meine Pflicht, einfach weiterzumachen …“
„Ah, ich verstehe. Und schließlich hörten Sie auf?“
„Ja, Majestät, der Oberfeldwebel befahl mir, bei meiner Schwadron zu bleiben und nur zusammen mit ihr zu attackieren.“
„Doch Sie kämpften weiterhin mit lobenswertem Feuereifer“, bemerkte der Zar amüsiert.
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