Kristall der Macht
mit dem Flechten begonnen hatten, brach erneut ein Tumult in den Bäumen aus. Schlimmer noch als zuvor regneten Äste und Blätter auf die kleine Gruppe herab, während die Luft von einem so panischen Zetern und Schreien erfüllt war, wie Kaori es niemals zuvor gehört hatte.
Affen!
Kaori legte den Kopf in den Nacken und schaute blinzelnd nach oben. Wo eben noch beschauliche Ruhe geherrscht hatte, wogten die Äste der Baumkronen nun wie von einem mächtigen Wind gepeitscht hin und her. Affen jeder Größe und Gattung bahnten sich in wilder Panik ihren Weg ins Innere der Insel. Die kleinen und wendigen nutzten dabei nicht selten die Körper der größeren Affen als Sprungbrett oder Brücke, um noch schneller voranzukommen.
Eine Horde von Schwarznasenäffchen überrannte rücksichtslos einen großen grauzottigen Baumbrüller, der nach einem Ast gegriffen und eine Verbindung zwischen zwei Bäumen geschaffen hatte. Baumbrüller galten als aggressiv und gefährlich. Nicht nur die anderen Affen der Insel, sondern auch die Menschen hatten großen Respekt vor den klugen und unberechenbaren Tieren, die ausgewachsen leicht die Größe eines Mannes erreichen konnten. Die kleinen Schwarznasenäffchen nahmen für gewöhnlich sofort Reißaus, wenn ein Baumbrüller auftauchte, denn wer unachtsam war, landete nicht selten im Magen der alles fressenden Artgenossen. An diesem Morgen aber schienen sie ihre angeborene Vorsicht vergessen zu haben. Ein Umstand, für den es nur eine Erklärung geben konnte: Ganz gleich, wovor die Affen flohen, es musste schlimmer sein als der Tod.
Kaori erschauderte. Als sie in sich hineinhorchte, glaubte auch sie eine Veränderung zu spüren. Es war nichts, das wirklich greifbar war, kaum mehr als eine Ahnung von Gefahr, ausgelöst durch die Panik der Tiere.
Vielleicht zieht ein Sturm auf?
Unsinn. Kaori schüttelte den Kopf und verdrängte das unheilvolle Gefühl, das sich in ihrer Magengegend ausbreitete. Die Zeit der Stürme lag hinter ihnen, und außerdem hatte es keinerlei Anzeichen für das Nahen eines Unwetters gegeben.
»Warum sind die Tiere so ängstlich?« Eines der Mädchen zupfte ungeduldig an Kaoris Kittel. Offenbar hatte sie die Frage nicht zum ersten Mal gestellt.
»Das … das weiß ich nicht.« Kaori schüttelte den Kopf und seufzte. Gern hätte sie den Kindern eine bessere Antwort gegeben, aber es war die einzige, die sie hatte.
»Ich will nach Hause.« Minou, die jüngste der Gruppe, fing an zu weinen.
»Vielleicht … zieht ein Sturm auf«, wagte eines der älteren Mädchen zu vermuten. »Wir sollten zurückgehen und nachsehen, was los ist.«
»Und die Flöße?« Kaori spürte, wie unruhig die Kinder waren. Ihr selbst ging es ja auch nicht anders. Andererseits hatten sie hier eine Aufgabe zu erfüllen. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Pflicht, überlegte sie fieberhaft, wie sie die Kinder beruhigen könnte. »Wisst ihr was, wir …«
Gellende Schreie, die der Wind vom fernen Dorf bis in den Wald hineintrug, ließen ihr die Worte auf den Lippen gefrieren. Am Strand musste etwas Furchtbares vor sich gehen! Sie verfluchte das Dickicht des Dschungels, das es ihr unmöglich machte, etwas zu sehen. So schloss sie die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, ihren Geist dorthin zu schicken, gab den Versuch aber sogleich wieder auf. Eine Geistreise war ihr nur im Zustand großer innerer Ruhe möglich. Furcht, Sorge oder auch nur eine kleine Aufregung stellten für ein solches Unterfangen ein unüberwindliches Hindernis dar. Sie hatte keine Wahl. Wenn sie wissen wollte, was am Strand vor sich ging, musste sie hinuntergehen und nachsehen.
»Mama!« Minou schluchzte bitterlich, und auch zwei andere Mädchen hatten Tränen in den Augen. Die Jungen blickten bleich und stumm in die Richtung, aus der die Schreie kamen, während die älteren Mädchen Kaori besorgt und fragend anschauten. Diese zögerte nicht. Sie stand auf und bedachte die Kinder mit einem langen, ernsten Blick. »Ihr bleibt hier«, ordnete sie in einem Ton an, der keine Widerrede duldete. »Nenele und Shui, ihr kümmert euch um die Kleinen. Ich laufe zum Dorf und sehe nach, was dort los ist.«
»Kommst du wieder?«, fragte ein Junge mit dünner Stimme.
»Natürlich.« Kaori zwang sich zu einem Lächeln und strich ihm aufmunternd über die Wange. »Macht euch keine Sorgen. Es wird alles gut.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte in den Dschungel hinein.
Dornige Ranken streiften ihre nackten
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