Kristall der Macht
Beine, als sie den schmalen Pfad entlanghetzte, der vom Weiher zum Dorf hinunterführte. Äste fuhren ihr peitschend übers Gesicht, verfingen sich in ihren Haaren und zerrten daran, aber all das kümmerte sie nicht. Die entsetzlichen Schreie wurden mit jedem Schritt lauter und ließen das Schlimmste befürchten. Obwohl Kaori die Angst wie einen eisernen Ring um die Brust spürte, hielt sie nicht inne, sondern beschleunigte ihre Schritte noch.
Im Geist kämpfte sie gegen Bilder von Riesenwellen an, die das Fischerdorf zu verschlingen drohten, gegen die Erinnerung an die zerstörerische Wucht einer Wasserhose, die Nintau gestreift hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und gegen die alten Legenden, die von riesigen Seeungeheuern erzählten, welche schon so manches Fischerboot in die Tiefe gerissen haben sollten.
Sie hatte das Ende des Dschungels fast erreicht, als ihr die ersten Flüchtenden entgegenkamen. In blinder Panik stürmten sie durch das Unterholz, als ob sie von etwas verfolgt würden. Kaori wollte sie aufhalten und rief sie mit Namen an, aber keiner der Flüchtenden achtete auf sie. Kaori fluchte leise, dann setzte sie ihren Weg in entgegengesetzter Richtung fort und wäre dabei fast mit einem jungen Mann zusammengestoßen, der ihr vertraut war.
»Tamre!«
»Kaori?« Tamre schnappte nach Luft. »Verdammt, Kaori, was tust du hier? Du musst fliehen! Schnell!« Er packte ihre Hand und wollte sie mit sich ziehen, aber Kaori blieb standhaft und hielt ihn fest. »Warum?«, fragte sie. »Warum soll ich fliehen? Was geht da unten vor sich?«
»Der Luantar!« Tamres Blick flackerte irr, als er die beiden Worte keuchend hervorstieß. Er entwand sich ihrem Griff mit einem Ruck, spurtete los und rief: »Flieh, Kaori! Der Dämon ist erwacht!«
»Der Dämon?« Kaori glaubte, sich verhört zu haben. Ihre eigene Zwillingsschwester wachte als Maor-Say über den Luantar. Er konnte nicht erwacht sein. »So warte doch!« Ihr Ruf ging im Lärmen und Schreien der Flüchtenden unter. Tamre hörte sie nicht.
Kaori zögerte. Hin- und hergerissen zwischen der Verantwortung, die sie für die Kinder am Weiher trug, und dem Wunsch, den Grund für die Panik in Erfahrung zu bringen, erwog sie einen Augenblick lang, Tamres Rat Folge zu leisten. Dann setzte sie den Weg zum Strand fort.
Der Luantar kann nicht erwachen, machte sie sich selbst Mut, während sie sich einen Weg gegen den Strom der Flüchtenden bahnte. Tamre irrt. Alle irren sich! Der Dämon kann uns nicht gefährlich werden, solange eine Maor-Say über ihn wacht. Wir sind sicher! Sicher …
Wie angewurzelt blieb Kaori an der Grenze zwischen Dschungel und Strand stehen, starrte auf den furchtbaren Anblick, der sich ihren Augen bot – und verstand.
Nicht Tamre war es, der sich irrte. Sie irrte sich. Der Luantar war nicht mehr gefangen, er war erwacht, und seine Rache war fürchterlich. Wie eine alles verschlingende Woge fegte sein gelber Atem über das Meer auf die Küste zu. Schnell, lautlos, todbringend.
Den Horizont hatte er bereits verschlungen. Nur Bruchteile eines Augenblicks trennten ihn vom Strand und dem kleinen Fischerdorf, in dem sich immer noch Menschen aufhielten. Kaori hörte sie schreien, verzweifelt und so voller Angst, wie sie noch niemals Menschen hatte schreien hören. Sie sah sie fliehen. Eine Mutter mit ihrem Kind an der Hand, einen Säugling fest an sich gepresst. Kinder, die weinend umherstolperten – verlassen und vergessen. Und die Alten, Gebrechlichen, die nicht schnell genug waren, den Jungen zu folgen. Sie alle strebten dem Wald zu, der Schutz verhieß und ihnen doch keinen Schutz würde bieten können.
Kaori sah sie näher kommen und wusste noch im selben Augenblick, dass sie sterben würden. So wie alle. Ihre Freunde, ihre Familie, Tamre, die Kinder am Weiher – und sie selbst. Es gab keine Rettung, keinen Ort der Zuflucht, so wie es auch damals keinen gegeben hatte. Der Dämon war erwacht. Es war vorbei. Dies und anderes ging ihr durch den Kopf, als sie die schmutzig gelbe Wolke unaufhaltsam näher kommen sah. Gedanken und Erkenntnisse folgten einander rasend schnell, verblüffend scharf und von einer schonungslosen Eindringlichkeit, wie es sie wohl nur im Angesicht des Todes gab. Nicht ein einziger Gedanke galt der Flucht. Weder in dem Moment, da die Wolke den Strand überrollte, noch dann, als sie das Dorf und die Menschen verschlang und die Schreie der Flüchtenden erstickte. Kaori stand einfach nur da, starrte auf
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