Kristall der Träume
aus. Mit einer gemurmelten Ausrede drückte er seinem Bruder Caleb die Fackel in die Hand und stahl sich vom Weinberg. Das Zeltlager erstreckte sich über die gesamte Ebene und reichte bis fast an den Jordan. Aus Hunderten von Kochstellen stiegen Rauchschwaden in den Sternenhimmel. Es gab so viel zu sehen, zu hören und zu riechen, dass Avram seine Marit beinahe darüber vergaß. Dann und wann blieb er stehen und staunte über Akrobaten und Zauberer, Tänzer und Jongleure, Schlangenbeschwörer und Trickkünstler, die alle nur das eine wollten: den leichtgläubigen Zuschauer von seinen kostbaren Kaurimuscheln zu trennen. An jeder Ecke gab es etwas zu essen. An gewaltigen Spießen steckten gebratene Schweine und Ziegen, auf Reetmatten türmten sich Berge von Brotfladen und mit Honig gefüllte Schalen, und überall standen Bierfässer mit langen Strohhalmen, die zum Trinken einluden.
Ein kleiner Menschenauflauf hatte sich um eine Tänzerin gebildet, die lediglich eine Perlenschnur um den Hals und einen Muschelgürtel um die Hüften trug. Sie hatte einen schönen, sinnlichen Körper. Ihre Haut glänzte von Schweiß, während sie zum Takt einer Trommel und dem Händeklatschen der Umstehenden stampfte und sich verführerisch wand und bog. Bei ihrem Anblick wurde Avram ganz heiß, am liebsten hätte er die Tänzerin genommen und sich tief in sie gebohrt. Sein Mund wurde trocken, und seine Blicke schossen wie Pfeile auf ihre Schenkel. Er dachte an Marit und empfand einen unstillbaren Hunger.
Als er sich von der Tänzerin abwandte, entdeckte er ganz in der Nähe Marits Abba, der heftig mit einem Elfenbeinhändler feilschte.
Molok war ein untersetzter Mann mit O-Beinen, dem sein gewaltiger Bauch als Zeugnis seines Wohlstands und seines Bierkonsums über den Gürtel quoll. Ein jähzorniger Mensch, der ohne mit der Wimper zu zucken jedem männlichen Nachkommen Talithas die Eier abschneiden würde, sollte dieser auch nur einen Blick auf eine Serophia-Frau wagen.
Avram schlug das Herz bis zum Hals. Auf was hatte er sich da eingelassen? Warum hielt er an dieser Obsession fest, die einfach nicht gut enden konnte?
Er war gerade zu dem Schluss gelangt, dass seine Suche nach Marit nur Unglück bringen würde und er besser auf seinen Wachposten zurückkehren sollte, als ihn ein gewisses Lachen ganz in der Nähe aufhorchen ließ: silberhell und klar wie der Gesang eines kleinen Vogels, der in den Weiden am Fluss lebte.
Der Boden schwankte unter Avrams Füßen, und im nächsten Moment hatte sich alles um ihn herum in nichts aufgelöst. Das Einzige, was blieb, war Marit mit ihrem glockenhellen Lachen. Von seinem Liebeskummer übermannt, stand Avram wie benommen und rang nach Luft. Konnte man aus Liebe sterben? Da drehte Marit sich um und sah ihn an. Und ein Wunder geschah. Alles rückte wieder an seinen Platz: der Mond mit allen Sternen, die jetzt heller funkelten als je zuvor; der Boden unter Avrams Füßen, ja selbst das Zeltlager mit seinem fröhlichen Treiben. Avrams Haut prickelte vor Erregung, denn Marit sah ihn an, offen und direkt. Der Blick aus ihren dunklen Augen verfing sich mit seinem, sie saugte ihn ein, zog ihn in ihr Innerstes, wie sie es schon so oft in seinen Träumen getan hatte.
Avram schluckte. Dieser Blick war unmissverständlich.
Das Tal der Raben war ein Trockental, das im Sommer keinerlei Wasser führte, nach heftigen Winterregen jedoch von reißenden Strömen erfüllt wurde. Avrams Schatten, der im Mondlicht scharfe Konturen auf die Felswände der Schlucht warf, folgte ihm wie ein Verbündeter. Avram lauschte in die Nacht, hörte das einsame Heulen der Schakale und den Wind, der durch die Felsschlucht pfiff.
Trotz der kalten Nachtluft brannte seine Haut wie Feuer. Am Himmel stand ein runder, praller Mond.
Im Grunde glaubte Avram nicht so recht, dass Marit kommen würde. Mit Hilfe eines Freundes hatte er ihr heimlich eine Nachricht zukommen lassen – dass er eine seltene Blume im Tal der Raben gefunden hätte, die er ihr gern zeigen wollte. Marit würde wissen, dass es sich um eine Lüge handelte, aber falls sie zu kommen beabsichtigte, würde sie genau diese Ausrede brauchen. Avram kauerte sich nieder und wartete. Von den Festlichkeiten im Dorf drangen bisweilen Musikfetzen, Gelächter und köstliche Essensdüfte herüber. Sein Magen knurrte, dennoch verspürte er keinen Hunger.
Seine Ungeduld und Nervosität wuchsen. Die Zeit verstrich. Der Mond zog gemächlich seine Bahn. Avram sprang auf und ging
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