Kristall der Träume
Glücksbringer. Das konnte die getrocknete Nabelschnur sein, der erste Zahn oder eine Locke vom Haar der Mutter. Während Avram den kleinen Beutel mit Zauberkieseln, Knochen- und Aststückchen umklammerte, fragte er sich bang, ob sein Talisman stark genug sei, ihn vor der eigenen Großmutter zu schützen.
Er blickte ihr nach, wie sie sich zwischen den Hütten und herumliegenden Unrat einen Weg bahnte, an den stinkenden Gerberhütten, vor denen blutige Tierhäute zum Trocknen auslagen, vorbei, bis sie schließlich an dem Lehmziegelgebäude anlangte, das den Schrein der Göttin beherbergte. Avram sah, wie Reina, die Priesterin, aus ihrer Hütte trat, die Besucherin zu begrüßen. Selbst von seinem Ausguck konnte Avram Reinas prächtige Brüste erkennen. Während der Sommerzeit gingen für gewöhnlich alle Frauen barbrüstig, und so konnten die Männer ihre Blicke an den Schätzen der Frauen laben. Reinas Brüste waren hoch und fest, nicht so schlaff und hängend wie bei den meisten Frauen ihres Alters, weil Reina nie Kinder gehabt hatte. Als sie zur Priesterin erkoren worden war, hatte sie ihre Jungfräulichkeit zwar der Göttin geweiht, doch fühlte sie sich deswegen nicht weniger als Frau. Sie rieb sich die Nippel mit rotem Ocker ein und parfümierte sich das Haar mit duftenden Ölen. Über ihren ausladenden Hüften trug sie einen Hirschlederrock, dessen Bund so weit unter den Nabel reichte, dass er das heilige Dreieck, zu dem kein Mann je Zutritt haben würde, nur knapp bedeckte.
Avram seufzte in jugendlicher Hitze und fragte sich, warum die Göttin diesen verwirrenden Hunger zwischen Männern und Frauen geschaffen hatte. Zum Beispiel Reina, die kein Mann je berühren durfte und die sie darum umso heftiger begehrten, oder Marit, der sein Herz gehörte und die er nie würde haben dürfen. Wo lag hier das Vergnügen?
Kurze Zeit später trat die Großmutter aus dem Schrein der Göttin, in dem die heilige Statue mit dem blauen Kristall aufbewahrt wurde.
Avram fiel auf, dass die alte Frau nach Hause hastete, als ob sie von etwas Dringendem getrieben würde. Einen Augenblick später hörte Avram erregte Stimmen. Großmutter und sein Abba stritten miteinander!
Dann stürmte sein Abba aus dem Haus den staubigen Pfad hinunter, der an den Gerstefeldern vorbei zu Marits Haus führte. Es machte Avram ganz unglücklich, Yubal so aufgebracht zu sehen, und er dachte an die Zeit seiner Kindheit zurück, da Yubal ihn auf den Schultern über Wiesen und durch Bäche getragen hatte. Dabei war Avram sich wie ein Riese vorgekommen und so stolz auf diesen Schultern geritten, dass er nie wieder absteigen wollte. Avram kannte keinen anderen Jungen, der so eine enge Beziehung zu seinem Abba hatte.
Nicht jeder Mann verdiente den Ehrentitel »Abba«, der so viel wie Herr oder Gebieter bedeutete. Herr über ein blühendes Geschäft, manchmal auch Herr über ein Haus und eine Familie. Nur wenige Männer hielten es lange mit einer Frau aus, und schon gar nicht, wenn sie Kinder bekam. Yubal stellte eine Ausnahme dar, denn er hatte Avrams Mutter aufrichtig geliebt und zwanzig Jahre lang in ihrem Haus gelebt. In seinen hirschledernen Kleidern war er eine imposante Erscheinung, das lange Haar und den Bart hatte er, seinem Status entsprechend, sorgfältig eingeölt. Avram sah, wie er plötzlich stehen blieb, sich das Kinn rieb, dann auf dem Absatz umkehrte und den Weg ins Dorf einschlug. Dort ließ er sich bei Joktan, dem Bierhändler, im Schatten eines Baumes nieder, wo bereits drei andere Männer über einem Fass Bier saßen und Yubal, der zu den beliebtesten und am meisten bewunderten Dorfbewohnern zählte, mit großem Hallo begrüßten. Joktan brachte ihm ein Schilfrohr von gut zwei Armlängen, das Yubal durch den trüben Bierschaum steckte, um das erfrischende Nass vom Grund des Fasses zu schlürfen. Joktans Bier war wesentlich schlechter als Moloks, aber Yubal hatte geschworen, dass er eher Schlangenpisse trinken würde, als dass Bier von Serophias Nachgeborenen über seine Lippen käme.
Bei Yubals Anblick wurde Avrams Eifer als Wächter wieder geweckt. Schließlich tat er es für seinen Abba, der stolz auf ihn sein sollte. Sein wachsamer Blick wurde jedoch erneut von Dingen abgelenkt, die ihn an seine neue Besessenheit, an Marit und an Sex erinnerten. Im Licht der Morgensonne leuchtete das frisch gemalte Bild weiblicher Genitalien an der Tür des Steinpolierers. Der alte Mann hoffte, dass dadurch seine Töchter schwanger würden. Viele
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