Kristall der Träume
unruhig umher. Marit würde nicht kommen. Aber er hatte sich getäuscht.
Plötzlich stand sie vor ihm, als sei sie geräuschlos auf einem Mondstrahl herabgeglitten.
Sie schauten sich stumm an. Zum ersten Mal waren sie allein miteinander, ohne ihre Schwestern oder Avrams Brüder oder andere Dorfbewohner, die sich sonst immer in ihrer Nähe hielten. Nur die Sterne waren Zeugen.
Avram zitterte vor Angst und Aufregung. In all seinen Phantasien hatte er nicht mit Angst gerechnet. Mit einem Mal, viel zu spät, wurde ihm bewusst, dass ihre Ahnen Talitha und Serophia ebenfalls hier waren, gespenstische Kontrahentinnen, die nur darauf lauerten, welch schwerwiegende Tabus ihre Nachkommen brechen würden.
Der Angstschweiß brach ihm aus. Er wusste genau, wenn er sich jetzt umdrehte, würde Talitha wie ein Racheengel hinter ihm stehen, bereit, ihm jederzeit den Kopf abzureißen. Avram sah, wie Marit sich fröstelnd die Arme rieb und ängstlich umschaute, als ob auch sie ihre rachsüchtigen Ahnen zu sehen erwartete, die ihr den Todesstoß versetzen würden. Doch das Einzige, was sie hören konnten, war der Wind in den Felsen, und alles, was sie sehen konnten, waren Mondschein und Schatten und einander. Avram räusperte sich. Es klang wie Donnerhall. Den Blick auf die Hände gesenkt, fragte Marit: »Die Blume, hast du…?«
Er schluckte. »Ich…« Sie wartete.
Er glaubte, mitten in einem Feuer zu stehen. »Ich… «, hob er wieder an. In seinen kühnsten Träumen über ihre erste unbeobachtete Begegnung war er auf diesen Moment nicht vorbereitet gewesen.
Plötzlich spürte er die Blicke seiner Großmutter auf sich, seines Abba und all seiner Vorfahren bis zurück zu Talitha, und kalte Furcht packte ihn. Was tat er da? Er war dabei, das größte Tabu seiner Familie zu brechen!
Als er sah, wie heftig Marit zitterte, begriff er, was sie alles auf sich genommen hatte, um hierher zu kommen, und wie gefährlich es auch für sie sein musste. Molok würde ihren nackten Rücken peitschen, wenn er davon erfuhr!
Sie konnten immer noch zurück. Er könnte hinauf in die Berge gehen, und Marit könnte nach Hause schleichen. Niemand hätte etwas gemerkt.
Aber sie rührten sich nicht. Sie waren Gefangene des Mondlichts und ihres Verlangens, das vierzehnjährige Mädchen und der sechzehnjährige Junge auf der Schwelle zu Frau und Mann. Später wusste keiner mehr zu sagen, wer den ersten Schritt getan hatte.
Doch der eine Schritt genügte, die anderen folgten von alleine, und im nächsten Augenblick, der alle vergangenen Jahrhunderte und Zeitalter auslöschte, lagen sie sich in den Armen. Avram hielt Marit fest umschlungen, presste seine Lippen auf ihre, und in ihrem verzweifelten, hastigen und ungeschickten ersten Kuss fürchteten sie, die Wände der Schlucht könnten einstürzen und sie beide unter einer Felslawine begraben. Sie glaubten, die aufgebrachten Vorfahren aufheulen zu hören und den kalten Hauch des Todes zu spüren. Aber da waren nur Avram und Marit in leidenschaftlicher Umarmung, blind gegen alle Geister, Tabus, Blutlinien und Rachegefühle im alles überstrahlenden Gefühl ihrer Liebe.
Am folgenden Morgen spähte Avram nach Zeichen des Unglücks, das seine Familie heimgesucht haben könnte. Er erwartete, das Haus in Trümmern, das Dach in Flammen oder seine Haut mit Pusteln übersät zu finden. Der Morgen jedoch war friedlich, und seine Großmutter trank wie gewöhnlich ihr Bier zum Frühstück. Sie klagte weder über einen schlechten Traum noch, dass sie irgendetwas vermisste. Einzig Yubal schien mehr zu grübeln als sonst, aber Avram schob das auf die bevorstehende Weinernte. Er frühstückte in nervösem Schweigen, und bevor er das Haus verließ, zollte er den Ahnen besonderen Respekt, indem er mehr als sonst üblich von seinem Frühstück für sie stehen ließ und sie bat, das Haus wegen seines Fehltritts mit Marit nicht heimzusuchen. Obwohl er in der ständigen Furcht lebte, die Erde könne sich plötzlich auftun und ihn verschlingen oder der Blitz ihn aus heiterem Himmel treffen, vergingen die Tage ohne Anzeichen für kommendes Unheil. Das gab Avram neue Zuversicht, und so verabredete er sich wieder heimlich mit Marit im Tal der Raben. Nachdem auch Marit nichts Ungewöhnliches zu berichten hatte, meinten sie, dass ihre Ahnen mit ihrem Tun wohl einverstanden waren. »Es ist der Wunsch der Göttin, dass wir Vergnügen finden«, sagte Avram, als er Marit in seine Arme zog. »Und es steht den Ahnen nicht zu, das Gebot
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