Kristall der Träume
kundzutun, dass ihnen nichts übrig blieb als weiterzuziehen. Die Große verharrte noch eine Weile am Wasserloch, aus dem sie alle getrunken hatten. Sie starrte auf die glatte Oberfläche, blickte dann hinauf zum rauchvernebelten Himmel und wieder auf das Wasser, diesmal unter Einbeziehung des Felsüberhangs. Sie runzelte die Stirn. Das Wasser unweit ihres Nachtlagers tags zuvor war ungenießbar gewesen. Dieses hier war sauber und wohlschmeckend. Es kämpfte in ihr, dies zu begreifen.
Der rußige Himmel, der Felsüberhang, das klare Wasser.
Und dann bildete sich der Gedanke: Das Wasser hier war beschützt. Die Große sah, dass sich die Familie langsam in Bewegung setzte - an ihrer Spitze Löwe mit seinem fellbedeckten Rücken, neben ihm Honigfinderin, ein Baby auf dem Arm, ein Kleinkind im Huckepack und ein größeres Kind an der freien Hand –
, watschelnd, trottend, jetzt nicht mehr durstig, dafür umso hungriger. Die Große drängte es, sie zurückzurufen, sie vor etwas zu warnen. Aber sie wusste nicht, wovor. Es hatte etwas mit der neuen, namenlosen Gefahr zu tun, die sie in letzter Zeit witterte. Und jetzt ahnte sie, dass diese namenlose Gefahr mit Wasser zu tun hatte – mit dem aschebedeckten Wasser bei Tagesanbruch und diesem klaren Wasserloch hier und vermutlich auch mit dem Tümpel, zu dem Löwe mit ihnen auf dem angestammten Pfad unterwegs war.
Sie spürte ein Zupfen am Arm. Alte Mutter, die mit ihrem kleinen verwitterten Gesicht besorgt zu ihr aufschaute. Sie durften nicht zurückbleiben.
Als die Familie zu einem mit Früchten voll hängenden Baobabbaum gelangte, schlug jeder, der einen Stock schwingen konnte, an die Äste, um die fleischigen Samenschoten herunterzuholen. Sofort machten sich alle darüber her; einige aßen im Stehen, um immer wieder in der Gegend herumzuspähen und sich zu vergewissern, dass kein Raubtier in der Nähe war. Anschließend legte man sich unter dem ausladenden Baum zur Ruhe, wich der Nachmittagshitze aus. Mütter stillten Babys, kleine Kinder wälzten sich ausgelassen im Schlamm. Honigfinderin lauste Löwe das zottelige Haar, Alte Mutter strich Spucke auf die Brandwunde des kleinen Jungen, und die Große, die an einem Baum lehnte, starrte beklommen hinüber zu dem erzürnten Berg in der Ferne.
Nach der Rast rappelten sie sich wieder auf und zogen weiter nach Westen, wieder auf der Suche nach Essbarem. Bei Sonnenuntergang gelangte die Familie zu einem breiten Flusslauf, in dem sich Elefanten tummelten und mit ihren Rüsseln Wasser verspritzten. Vorsichtig näherten sich die Menschen dem Ufer und sahen sich nach Krokodilen um, die man leicht mit treibenden Baumstämmen verwechseln konnte, weil lediglich ihre Augen und Nasenlöcher sowie ein kleiner Rückenhöcker über die Wasseroberfläche hinausragten. Obwohl sie hauptsächlich des Nachts auf die Jagd gingen, wusste man aus Erfahrung, dass sie durchaus auch tagsüber zuschlugen, wenn sich eine günstige Gelegenheit bot. Mehr als einmal musste die Familie miterleben, dass ein Krokodil in Ufernähe nach einem der ihren geschnappt hatte und blitzschnell mit ihm untergetaucht war.
Die Gruppe war zunächst verstört, als sie feststellte, dass die Oberfläche des trägen Gewässers mit Ruß und Asche bedeckt war, beruhigte sich aber wieder beim Anblick der Unmengen von Vögeln, die das Ufer bevölkerten – Regenpfeifer und Ibisse, Gänse und Schnepfen –, was mit Eiern gefüllte Nester verhieß. Und weil die Sonne langsam am Horizont untertauchte und die Schatten lang wurden, entschlossen sie sich, hier ihr Nachtlager aufzuschlagen.
Während die Kinder darangingen, hohes Gras und weiche Blätter für die Bettnester zu sammeln, durchwühlten Alte Mutter und die Große mit anderen Frauen das sandige Ufer nach Schalentieren.
Frosch und seine Brüder machten sich auf die Suche nach Ochsenfröschen, die sich in der trockenen Jahreszeit in der Erde vergruben und dort regungslos verharrten, bis die ersten Regentropfen den Boden aufweichten. Da es sehr lange nicht geregnet hatte, rechneten sich die jungen Männer reiche Beute aus.
Feuermacherin schickte ihre Kinder zum Sammeln von Dung aus und ging dann daran, mit ihren Feuersteinen und trockenen kleinen Zweigen ein kleines Feuer zu entfachen, das bald darauf munter flackerte. Zum Schutz vor Raubtieren steckten die Männer das Lager mit Fackeln aus in Harz getränkten Ästen ab. Die Nahrungssuche erbrachte darüber hinaus wilde Zichorienblätter, Zyperngrasknollen und einen
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