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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Prolog

    A
    ls die Stunde des Ebers nahte, war die riesige Stadt Edo von dichtem Nebel überdeckt, der die Dunkelheit verschwimmen ließ und die Geräusche dämpfte. Feiner Frühlingsregen rieselte auf die Ziegeldächer des Händlerviertels Nihonbashi und bildete Pfützen auf den schmalen Straßen. Nur in wenigen Fenstern leuchtete schwach das gelbe Licht von Lampen hinter den hölzernen Gittern und der Papierbespannung; aus Holzkohlenbecken stieg Rauch empor, vermischte sich mit dem Nebel und ließ die Luft noch dicker werden. Obwohl die vielen Tore der Stadt noch nicht verschlossen waren, die den Weg von einem Viertel ins andere versperrten, waren die Straßen bereits menschenleer wie sonst nur um Mitternacht, obwohl bis dahin noch fast drei Stunden Zeit blieben.
    Der einsame Jäger auf der Pirsch kam aus dem Schutz eines Türeingangs hervor, der sich in einer Reihe von Ladeneingängen befand, die nebeneinander lagen; die hölzernen Fensterläden waren zum Schutz gegen das unfreundliche Wetter zugeschoben und fest verschlossen. Die feuchte Kälte drang durch den Umhang des Mannes und sickerte zwischen den Panzerplatten des Waffenrocks hindurch, den er darunter trug. Eisige Nässe sammelte sich unter seinem breitkrempigen Hut und im Inneren der eisernen Maske, die sein Gesicht bedeckte. Ein Schauder überlief seinen Körper, der vor erwartungsvoller Erregung angespannt war. Der Atem des Mannes ging flach; mit jedem Zug atmete er Luft ein und aus, die nach nassem Holz, Erde und den nach Fisch stinkenden Ausdünstungen des Flusses Sumida roch. Verstohlen bewegte er sich zur Seite und hielt sich in den Schatten unter den vorstehenden Dächern der Läden, bis er zum nächsten Türeingang gelangte. Dort blieb er stehen. Alle seine Sinne waren angespannt; er lauerte auf das erste Anzeichen, daß seine Beute nahte.
    Die Zeit verstrich. Die Geräusche des Abends – Stimmen aus den Häusern in der Nähe, ferner Hufschlag und das Klappern der Karren, die wie jeden Abend den Abtritt auf die Felder vor der Stadt brachten – wurden nach und nach schwächer, als Edo sich auf das Schließen der Tore und die Gefangenschaft seiner Einwohner vorbereitete, welche diese bis zur Morgendämmerung ertragen mußten. Zitternd vor Ungeduld spähte der Jäger die Straße hinunter. Seine Finger strichen über die flachen Stichblätter seiner Schwerter, die wie menschliche Schädel geformt waren. Würde der Feind heute abend erscheinen? Würde er, der Jäger, endlich das Ziel erreichen, auf das er so viele Jahre hatte warten müssen?
    Der Nebel war so dicht, daß der Mann in keiner Richtung weiter als zehn Schritt sehen konnte. Der trübe Schein einer Fackel, die das Tor am Ende der Straße zu seiner Rechten beleuchtete, war kaum auszumachen. Der Abend schien bar jeder Bewegung zu sein, bar jeden Lebens – bis auf sein eigenes. Enttäuschung breitete sich in seinem Inneren aus; zugleich verzehrte ihn der Blutdurst in heißen Wogen wilden Verlangens.
    Während der Mann wartete, gaukelte sein fiebriger Verstand ihm vor dem Hintergrund der dunklen, dichten Nebelwände Bilder vor, verschwommen zuerst, dann immer deutlicher. Wenn er blinzelte – so wie jetzt – konnte er sich über viele Jahre in die Vergangenheit zurückversetzen und sich selbst in einer Epoche erblicken, über die er so viel gehört hatte, daß er sie beinahe so gut kannte wie die Zeit, in der er lebte. Er sah sich in der Epoche des lange andauernden und ruhmreichen Bürgerkriegs, bevor das Dorf Edo zu einer Stadt mit einer Million Einwohnern erblüht war; die Zeit, bevor Ieyasu, der erste Tokugawa-Shōgun, seine Widersacher unterworfen und dem Land den Frieden aufgezwungen hatte.
    Die Zeit des größten Kriegsherrn, der je über die Erde geschritten war.

    Die Festung Kiyosu, einhundertneunundzwanzig Jahre zuvor. Eine gnadenlose Sommersonne brannte auf die zweitausend Samurai nieder, die im Inneren der weiß getünchten Palisadenmauern Schutz suchten. Der Jäger, der zu den niederrangigsten Fußsoldaten zählte, spürte die Furcht und das Unbehagen, die ihr jämmerlich kleines Heer erfaßt hatten. Dieser Tag konnte für sie alle Sieg und Leben bedeuten – oder Niederlage und Tod.
    »Er kommt!«
    Die Worte, flüsternd von einem Mann zum nächsten weitergegeben, durchliefen die Reihen der Krieger. Gemeinsam mit seinen Kameraden kniete der Jäger nieder und senkte den Kopf, die Arme zur Seite ausgestreckt, bis die Stirn den Boden berührte. Doch er konnte der Versuchung nicht

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