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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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1
    Ein uralter Haudegen. Der sich noch immer so glatt in die Kinder schlägt wie am ersten Tag.
    Willem lag im Bett, und Doktor Blask hantierte mit dem Spatel. Dann durchleuchtete er ein Auge.
    Mit der Einschulung wird das nichts.
    Der Doktor war ein vogelartiger Mann mit Kittel und Stirnspiegel. Er zwackte Willem in die Wange, bis das Fleisch weiß wurde. Na, das ist doch was, und Willem nickte.
    Dann kritzelte der Doktor und sah auf. Haben Sie Telefon?
    Die Mutter nahm das Papier.
    Rufen Sie in der Apotheke an.
    Der Frau gefiel die Art des Mannes nicht.
    Er hackte mit dem Spiegel. Rasch! Dann stachen seine Beine aus dem Kittel.
    Willem sah zu, wie er die Tasche packte.
    Weißt du, was Viren sind? Wieviel eine Milliarde ist? Und der Doktor lachte. Dann machte er eine Handbewegung. Kinder sind eine seltsame Sache. Bälger, die ständig schreien und fordern und doch so hilflos sind, daß sie gleich wegsterben, wenn man sich nicht kümmert. So liegen sie da, hilflose Parasiten, und saugen sich die Welt in Eingeweide und Kopf.
    Vor allem der Kopf! rief der Doktor. Da entsteht, was später als Welt erscheint, da keimt etwas, da wachsen im Grunde phantastische Möglichkeiten.
    Und doch verfestigen sich die jungen Köpfe ganz nach dem Muster der alten, erstarren innerlich und werden selber alt, sobald sie die nächste Generation auf die Welt werfen. Und dann geht das ganze Gezeter wieder von vorne los.
    Nichtwahr! So gesehen liegt natürlich alle Schuld ständig bei den Alten. Um so mehr, wenn man davon ausgeht, daß gerade Kinderköpfe offen sind für eine andere Wirklichkeit – eine Welt vielleicht, in der die Zeit rückwärts läuft oder die Naturgesetze sich auflösen.
    Willem lag da mit großen Augen.
    Und Doktor Blask rief: Na klar habe ich solche Welten schon gesehen! Man kann jede Menge sehen, wenn man nicht so wird wie die Alten.
    Dann lachte er. Und eine Milliarde, das ist eine Zahl. Eine Bezeichnung zur Größe einer Menge. Einen Meter beispielsweise, und seine Knie schossen durch den Kittel, kann man in zehn gleich große Stücke unterteilen. In hundert, in tausend, immer kleiner, ohne Ende, und ein Virus ist so winzig, daß sich Milliarden davon in einem Menschen verstecken können. Oder anders: Wenn die Menschen so groß wären wie ein Virus, hätten sie alle auf einem Streichholzkopf Platz.
    Doch nur, und er hob einen Finger. Nur weil etwas winzig erscheint, bedeutet das noch lange nicht, daß es tatsächlich so ist. Winzig macht es nur der Mensch, der es betrachtet. Und im Gegensatz zum Menschen kommen Viren nicht als hilflose Bälger auf die Welt, sondern als Spezialisten, und so können sie von Anfang an in die Zellen anderer Lebewesen eindringen. Menschen beispielsweise sind aufgebaut aus Milliarden von Zellen, und jede einzelne bildet eine Einheit, in der etwas funktioniert, das zuletzt den ganzen Organismus am Leben erhält. Und wenn die Viren sich in einer Zelle einnisten, programmieren sie alles auf ihre Bedürfnisse um; sie saugen fremde Energie und verwandeln sie zu ihrem Vorteil, sie vermehren sich, und die Tochterviren dringen in weitere Zellen, nisten sich ein, programmieren, saugen und machens geradeso wie die Alten.
    Im Grunde, meinte Blask, seien Bälger und Viren gar nicht so verschieden. Und auch die Erwachsenen verhielten sich im Grunde so – na, und dabei zückte er eine Taschenuhr, diese Erwachsenen, die seien ein Thema für sich, und das würde Willem noch früh genug lernen. Wie gesagt, die Einschulung würde er verpassen, doch in einer Woche sei er wieder auf dem Damm. Er habe ihm etwas Puder verschrieben, jedoch keine Tabletten. Die Menschen schluckten bereits bei jeder Kleinigkeit von diesem künstlichen Zeug; sie verweichlichten, würden unfähig zu Widerstand und starken Gefühlen, und ihre Urfähigkeit, durch Anstrengung und Überwindung Freude zu erleben, sterbe aus.
    So stand Doktor Blask, und sein Kopf hackte. Und da er schon mal dabei sei, auch Willem wirke verweichlicht. Ein leptosomer Typ, ein klassisches Hygieneopfer. Menschenskinder, gerade als Balg müsse man sich den Dreck aus der Welt saugen, müsse den jungen Körper rüsten – oder etwa nicht: Durch ihre Geschichte hindurch hätten sich die Menschen doch gesuhlt, und wenn man plötzlich keimfrei lebe, sei das ein brutaler Schnitt. Eine künstliche Welt, die nichts mit den täglichen

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