Kryson 04 - Das verlorene Volk
lebloses steinernes Abbild versprochen hatte. Zu gerne hätte er mit ihr einmal das Lager geteilt. Sie war ihm so vertraut geworden. Aber sie hatte diesen Tomal ihm vorgezogen. Tarratar musste bei dem Gedanken an die Königin grinsen, leckte sich über die Lippen und bleckte die Zähne. Die edle Königin und Tarratar. Das wäre ein Liebespaar ganz nach seinem Geschmack. Ein nettes Abschiedsgeschenk, das er sich in seinen Augen mehr als verdient hätte.
»Unverschämter, lüsterner Zwerg, willst dich in ihrem Schoß vergnügen. So warm, weich und feucht. Halte deine schmutzigen Gedanken im Zaum, Tarratar«, dachte er bei sich. »Du magst mit Königinnen, Prinzessinnen und vielen anderen geschlafen haben. Selbst Fürsten und Regenten waren nicht vor deinem Trieb gefeit, so du denn in all der Zeit Gelegenheit fandest und Zehyr verlassen durftest, was leider selten genug vorkam. Du hattest Tartyk, Naiki und Felsgeborene. Die Eisprinzessin war dir aber eindeutig zu kalt. Sogar eine Rachurin trieb es einst mit dir. Von der Königin des verlorenen Volkes lässt du besser die Finger. Sie ist durchtrieben und mächtig genug, dir zu schaden. Ob ich den Lesvaraq vor ihrem Einfluss noch eindringlicher warnen sollte?«
Tarratar entschied sich dagegen.
»Vergiss nicht, er ist ein Lesvaraq. Seine Macht ist größer als deine. Er wird sich nicht blenden lassen und ihrerSchönheit erwehren können. Und wenn nicht, kann ich es auch nicht ändern. Wozu auch? Dann ist er selbst an seinem Schicksal schuld.«
Tarratar nahm seinen Lederbeutel auf, hüpfte abwechselnd auf dem linken und dann wieder auf dem rechten Bein die steinernen Treppen hinab zum Palastbezirk der Königin, dem innersten Heiligtum von Zehyr. Er durfte – von den Wachen unbehelligt – passieren. Tarratar kannte auch an diesem Tag jede Falle auf dem Weg zum Thron und er wusste genau, wie der Mechanismus des täglichen Wechsels funktionierte. Im Gegensatz zu allen anderen Besuchern stellten die tödlichen Fallen für ihn kein Hindernis dar.
Saykara schien ihn bereits zu erwarten. Sie lächelte, als sie den kleinwüchsigen Mann auf sich zukommen sah, der in seiner Kleidung und mit der Flickenkappe unverändert wie ein Narr aussah. Geschickt und leichtfüßig wich er den Fallen aus, bis er schließlich vor dem Thron stand. Mit einer tiefen Verbeugung, bei der seine Stirn den Marmorboden berührte, bekundete er der Königin seinen Respekt. Sie streckte ihm ihre nackten Füße entgegen. Tarratar nahm sie, erst den rechten, dann den linken Fuß in die Hand und hauchte galant einen Kuss auf ihre Zehen. Die Sitten der Nno-bei-Maya verlangten, dass ein Gast, dem es gestattet worden war mit der Königin zu sprechen, sich in ihrer Gegenwart nur erheben durfte, wenn die Königin es ihm erlaubte. Tarratar wusste wohl, dass Ulljan einst gegen diese Sitten verstoßen und Saykara damit von Anfang an gegen sich aufgebracht hatte.
»Steht auf, Tarratar«, sagte Saykara mit sanfter Stimme.
Die Stimme der Königin war umwerfend. Süß, warm und verlockend.
»Unwiderstehlich«, dachte Tarratar und lächelte, »und so weiblich. Sie weiß genau, wie sie die Männer um den Verstand bringen kann.«
»Meine Königin«, bedankte sich Tarratar, nachdem er sich erhoben hatte und ihr in die Augen sah.
»Ihr wollt uns schon verlassen?«, fragte sie, mit einem Hauch des Bedauerns in ihrem Tonfall.
»Schon?«, erwiderte Tarratar. »Das ist leicht untertrieben. Ich leistete Euch sehr lange Gesellschaft. Aber nun wird es Zeit für mich. Ihr seid aus den Schatten zurückgekehrt und – wie ich sehe – auch nach dem Fest der Befreiung wohlauf. Sosehr ich mich inzwischen an Eure Nähe gewöhnt habe und bei Euch bleiben möchte, ich muss gehen. Wichtige Aufgaben warten auf mich.«
»Das Buch, nicht wahr?«, fragte Saykara.
»Hoi, hoi, hoi … Ihr wisst davon«, zeigte sich Tarratar überrascht und zog misstrauisch blickend eine Augenbraue nach oben.
»Natürlich. Die Kristalle zeigen mir vieles. Aber es ist doch kein Geheimnis, dass Ihr ein Wächter des Buches seid.«
»Der erste Wächter, um genau zu sein«, antwortete Tarratar, »und, nein, es ist kein Geheimnis, obschon ich hin und wieder feststellen musste, dass mich nicht jeder auf Ell kennt.«
»Das wundert mich nicht, Tarratar«, meinte Saykara, »Ihr seid ein scheues, besonderes und höchst eigenartiges Wesen, das sich nicht gerne in Gesellschaft anderer wähnt. Ihr habt die meiste Zeit alleine in Zehyr verbracht. Die meisten
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