Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
erschossen worden. Sollen doch jetzt ihre Ankläger, die sich an das Gesetz der Diebe gehalten haben, mit dem Messer am Hals standhaft bleiben! Es begann der »
suki
-Krieg«, der auf beiden Seiten gewaltige Opfer forderte. Schalamow, der nach dem Krieg als Feldscher im Lagerkrankenhaus arbeitete, konnte die Folgen mit eigenen Augen beobachten: Diebe und »
suki
« wurden niemals in einen gemeinsamen Saal und später ein gemeinsames Krankenhaus gelegt – sie hätten einander abgestochen.
Bei genauerer Lektüre der »Skizzen« erweist sich Schalamows Verhältnis zu den Ganoven als nicht ganz so eindeutig. Die Ganoven lebten im Lager nicht nur auf Kosten der anderen (sie aßen besser, waren besser gekleidet), sondern taten sich auch »durch eine gewisse Festigkeit der Ansichten und ein beneidenswert verwegenes, furchtloses Benehmen« hervor 6 . Sie waren die einzige stabile Gruppe, deren Bosse (die »Diebe im Gesetz«, die Paten) unbedingte Autorität besaßen. Und das flößte gezwungenermaßen Achtung vor den »Nicht-Menschen« ein. Eben in Bezug auf die Ganoven fließen dem Autor quasi unwillkürlich die Worte »Aristokratie«, »blaues Blut«, »Prinzen des Gaunerbluts« aus der Feder. Sichtlich besaß die Bereitschaft der Ganoven, das eigene Leben zu opfern – und sei es im Namen dessen, was der Autor wütend ablehnt und verflucht – auf dem Hintergrund der allgemeinen Versklavung selbst in den Augen Schalamows ein gewisses Verführungspotential. Wohl nicht nur ehemalige Bauern oder vom Hunger gebrochene Intellektuelle fanden, dass bei ihnen auch die »Wahrheit des Lagers« 7 liegt.
So wurde »Karthago« nicht zerstört. Auch wenn seit der Entstehung der »Skizzen der Verbrecherwelt« fünfzig Jahre vergangen sind, ist die Schalamow verhasste Ganovenwelt nicht Vergangenheit; sie hat sich vielmehr weit über Gefängnis und Lager hinaus verbreitet und ist Teil der sozialen Norm geworden. Ihre Könige, die Diebe im Gesetz, die man an den Tätowierungen auf ihren Körpern erkennen kann (Treff oder Pik, ein Adlerflügel, eine Krone etc.), kontrollieren in Russland noch heute das Business, sie entscheiden in wirtschaftlichen Streitigkeiten und sind auch in der Politik vertreten. 8
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Nichts dem »verfluchten Orden« Vergleichbares finden wir in den Konzentrationslagern der Nazis. Dort erfreuten sich die Berufsverbrecher, deren Erkennungszeichen ein grünes Dreieck war, ebenfalls der Gunst der SS. Aber das waren gewöhnliche Rückfalltäter, die wesentlich schlechter organisiert waren als die politischen Häftlinge (vor allem die Sozialdemokraten und Kommunisten 9 ). Im Unterschied zu den Politischen verrieten sie einander oft; davor hielt sie, schreibt Martin Paul Neurath, der in Dachau und Buchenwald war, nur eins zurück – die Angst vor der Rache ihrer Kameraden. 10
Das Porträt eines »Märtyrers von der Kolyma« bei Schalamows ähnelt der Zeichnung des Seelenzustands eines Auschwitz-Häftlings bei Primo Levi: »konkret sind Hunger und Trostlosigkeit; alles übrige ist irreal …« 11 »Im Lager ist das Denken unnütz, denn die Geschehnisse treten zumeist in unvorhergesehener Weise ein; und zudem es ist schädlich, denn es enthält eine Sensibilität, die ein Quell des Schmerzes ist und die irgendein vorsorgliches Naturgesetz stumpf macht, sobald das Leiden ein bestimmtes Maß überschreitet« 12 . Vom Autor der »Erzählungen aus Kolyma« kennen wir nicht wenige ähnliche Sätze.
Doch in einem war er anderer Meinung als Levi, für den alle Bewohner der Lagerwelt »Nicht-Menschen« sind. Wenn dieser schreibt, »Die hier beschriebenen Personen sind keine Menschen« 13 , dann gilt das nicht nur für die Träger des grünen Dreiecks. Nicht zufällig nannte der italienische Autor sein (in vielem autobiographisches) Buch »Ist das ein Mensch?« – in der Welt, die er beschreibt, kann niemand Mensch bleiben. Menschliche Regungen sind im Universum des Konzentrationslagers ein Wunder, das aus den dort herrschenden Bedingungen nicht zu erklären ist.
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Die für mich herzzerreißendste Erzählung im gesamten Zyklus »Künstler der Schaufel« ist zugleich die einzige, die weder zum Fegefeuer der Wischera noch zur Hölle der Kolyma, durch die Warlam Schalamow beide gegangen ist, in direkter Beziehung steht. Sie entstand 1959, wie die »Skizzen der Verbrecherwelt«, und heißt »Das Kreuz«. Ein blinder Geistlicher geht jeden Morgen seine Ziegen melken und tröstet sich mit dem Gedanken, dass er seine Familie
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