Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Der Anfall
    Die Wand schwankte, und eine bekannte süße Übelkeit schnürte mir die Kehle zu. Das abgebrannte Streichholz auf dem Boden tauchte zum tausendsten Mal vor meinen Augen auf. Ich streckte die Hand aus, um dieses lästige Streichholz einzufangen, und das Streichholz verschwand – ich sah nichts mehr. Die Welt hatte sich noch nicht ganz von mir entfernt: dort, auf dem Boulevard, war noch eine Stimme, die ferne, nachdrückliche Stimme der Krankenschwester. Dann flogen Kittel, eine Hausecke, der Sternenhimmel vorüber, eine riesige graue Schildkröte erschien, ihre Augen schimmerten gleichgültig; jemand brach der Schildkröte eine Rippe heraus, und ich kroch in irgendeine Höhle, mit den Händen klammerte ich mich an und zog mich hoch: ich vertraute nur auf die Hände.
    Ich erinnerte mich an fremde nachdrückliche Finger, die mir Kopf und Schultern geschickt ins Bett drückten. Alles wurde still, und ich blieb allein mit jemand Riesigen wie Gulliver. Ich lag auf einem Brett wie ein Insekt, und jemand betrachtete mich starr durch eine Lupe. Ich drehte mich, und die schreckliche Lupe folgte meinen Bewegungen. Ich wand mich unter dem riesigen Glas. Und erst, als die Sanitäter mich ins Krankenbett hinübertrugen und die selige Ruhe der Einsamkeit anbrach, begriff ich, dass die Gulliver-Lupe kein Albtraum war – das waren die Brillengläser des diensthabenden Arztes. Das freute mich unaussprechlich.
    Der Kopf tat weh, bei der kleinsten Bewegung wurde mir schwindelig, und ich konnte nicht denken – ich konnte mich nur erinnern, und alte drohende Bilder tauchten auf wie Stummfilmszenen, schwarzweiße Figuren. Die süße Übelkeit, ähnlich wie eine Äthernarkose, hörte nicht auf. Sie war bekannt, und dieses erste Gefühl war jetzt enträtselt. Ich erinnerte mich, wie vor vielen Jahren, im Norden, nach sechs Monaten Arbeit ohne Erholung zum ersten Mal ein freier Tag angekündigt wurde. Jeder wollte liegen, nur liegen, nicht die Kleider flicken, sich nicht bewegen … Aber alle wurden am Morgen geweckt und zum Brennholzholen gejagt. Acht Kilometer von der Siedlung gab es einen Holzeinschlag – man musste sich ein seinen Kräften entsprechendes Stämmchen suchen und es nach Hause tragen. Ich beschloss, seitwärts ab zu gehen – dort gab es in etwa zwei Kilometern Entfernung alte Holzstapel, dort konnte ich ein passendes Stämmchen finden. Bergauf zu gehen war schwer, und als ich beim Stoß ankam – gab es dort keine leichten Stämme. Weiter oben lagen schwarze auseinandergeworfene Holzstöße, und ich machte mich auf den Weg. Hier gab es dünne Stämme, aber ihre Enden klemmten im Stapel, und ich war zu schwach, ein Holzstämmchen herauszuziehen. Ich versuchte es mehrmals und ermattete endgültig. Aber ohne Holz durfte ich nicht zurückkommen, und ich nahm meine letzten Kräfte zusammen und kroch weiter aufwärts zu einem Stapel, der mit Schnee bedeckt war. Lange schaufelte ich mit Füßen und Händen den knirschenden pulvrigen Schnee beiseite und zog am Ende eines der Stämmchen heraus. Aber das Stämmchen war zu schwer. Ich nahm das schmutzige Handtuch vom Hals, das mir als Schal diente, band das obere Ende fest und zog das Stämmchen bergab. Das Stämmchen hüpfte und schlug mir gegen die Beine. Oder es riss sich los und schoss schneller bergab als ich. Das Stämmchen blieb an einem Krummholzbusch hängen oder steckte im Schnee, und ich kroch hin und nötigte das Stämmchen, sich weiter zu bewegen. Ich war noch hoch auf dem Berg, als ich sah, dass es schon dunkel wurde. Ich begriff, dass viele Stunden vergangen waren, und der Weg zur Siedlung und zur Zone war noch weit. Ich zog am Schal, und das Stämmchen sprang wieder ruckweise abwärts. Ich zerrte das Stämmchen hinaus auf den Weg. Der Wald begann vor meinen Augen zu schwanken, eine süße Übelkeit schnürte mir die Kehle zu, und ich kam im Häuschen des Windenführers zu mir – der rieb mir Hände und Gesicht mit beißendem Schnee warm.
    All das erschien mir jetzt an der Krankenhauswand.
    Doch anstelle des Windenführers hielt der Arzt meine Hand. Der Riva-Rocci-Apparat zum Blutdruckmessen stand neben ihm. Und als ich begriff, dass ich nicht im Norden war, freute ich mich.
    »Wo bin ich?«
    »Im Institut für Neurologie.«
    Der Arzt fragte etwas. Ich antwortete mit Mühe. Ich wollte allein sein. Ich hatte keine Angst vor meinen Erinnerungen.
    <1960>

Die Grabrede
    Alle sind sie tot …
    Nikolaj Kasimirowitsch Barbe, einer der Begründer des russischen

Weitere Kostenlose Bücher