Kürzere Tage
sie an der offenen Glastür zum Wohnzimmer der alten Leute, schiebt den schweren Samtvorhang zur Seite und tritt ein. Mit hochgezogenen Schultern geht sie durch den Raum, der nur vom Flur aus erhellt wird. Die Spitzendeckchen auf den Möbeln leuchten durch die Düsternis. Beim Buffet stehen alle Türen offen. Schubladen sind herausgezogen, auf der Erde liegen Tischwäsche und Servietten, Kerzen und Besteck in wüsten Haufen. Es riecht seltsam, nach Alkohol. Eine leere Karaffe auf dem Couchtisch. Ob die Alten sich betrunken haben? Mein Gott, die Kinder, und warum ist es so dunkel? Judith eilt den Flur entlang. Hier brennt eine Lampe auf dem Telefontischchen, beleuchtet den altmodischen Fernsprecher mit der dunkelgrünen Samthülle. Jetzt hört sie den Hund und Kinderstimmen. Gottseidank, es ist Uli, Uli und Kilian. Wo sind sie? »Ulrich, Kilian!« ruft sie halblaut. »Frau Posselt, sind Sie da?« Ein Seitenblick in die Küche, da liegen Scherben auf dem Boden, dazu aufgerissene Schränke, wie nach einem Einbruch. Ihr Herz schlägt schneller. Sie hat das Ende des Flurs erreicht. Hier war sie noch nie. Welches Zimmer kommt jetzt? Von der Tapete glotzen der Dürer-Hase und zwei struppige Eichhörnchen, eine Landschaft in Öl, Berge und Wald. Sie steht vor der angelehnten Tür, hinter der die Stimmen ihrer Kinder hervordringen, und stößt sie auf.
Die Jungen stehen zu Füßen des breiten Ehebetts, neben ihnen zwei rothaarige Mädchen in rosa Jacken, Leonies Kinder. Wie heißen sie noch? Auf dem weiß bezogenen Deckbett liegenSüßigkeiten: Bonbons, Würfelzucker und runde, schokoladenüberzogene Kekse. Kilians Kiefer bewegt sich kauend, Uli knistert mit Stanniolpapier. Auch die Mädchen schmatzen leise mit gesenkten Köpfen.
Auf dem Nachttisch neben einem wachsbetropften Kerzenständer, in dem noch kleine Stummel stecken, leuchtet eine Lampe mit fransenverziertem Schirm. Ihr Lichtkreis umstrahlt das Kissen, auf dem Wenzel Posselts Kopf liegt. Das strenge Adlergesicht mit dem weißen Schnurrbart ist durch einen nassen Fetzen über den Augen und eine Zitrone unter dem Kinn vermauert. Er ist bis zur Hüfte zugedeckt, die Arme sind über der Brust gekreuzt. Er trägt einen Anzug, Hemd und Krawatte. Sein Hut liegt neben ihm auf dem Kissen. Es ist eiskalt im Zimmer, ein Fensterflügel ist gekippt. Trotzdem riecht es nach Essig und Kot.
»Mama!« ruft Uli. Kilian hängt sich an ihr Bein. »Mama, der Herr Posselt ist zum lieben Gott gegangen, und wir passen auf ihn auf. Dafür kriegen wir Süßis. Eigentlich kommen die auf den Sarg, aber der kommt erst morgen, sagt die Frau Posselt.« »Um Himmels willen, Frau Posselt!« Judiths Stimme ist schrill, als sie sich zu der alten Frau umdreht. Sie sitzt in Hut und Persianer im Sessel neben der Frisierkommode. Der Hund liegt zu ihren Füßen. Das dicke, blasse Gesicht unter den verschwitzten weißen Haarsträhnen ist undurchdringlich und starr, die Augen sind geschlossen. Obwohl langsame Atemzüge die groben Nasenflügel blähen, ist sie nicht ansprechbar.
»Mama, dürfen wir noch ein Süßi?« Judith nickt, dann nimmt sie das jüngere Mädchen an die Hand. »Uli, Kilian, wir wollen nach Hause.« Das ältere Mädchen, sie kommt einfach nicht auf den Namen, packt die Hand ihrer Schwester. Kilian und Uli tappen an Judiths Rechter. »Eure Mutter wartet auf euch.« Sie dirigiert die Kinder hinaus und schließt die Tür, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
Marco
Marco schlingt die Wurst runter. Er verzichtet auf den grünen Plastikdreizack und fischt die heißen Scheiben mit den Fingern aus der leuchtenden Tunke. Das Curryketchup brennt im Mund, wärmt den Magen. Er friert, seit er in die braunrote Bahnhofshalle getreten ist. Es zieht wie Hechtsuppe hier draußen, auch so ein Spruch von Oma Bine. Er hat sich an einen Stehtisch vor den Imbiß gestellt, damit er gleich abhauen kann, falls sie kommen. Hier hat er alles im Blick – die blaue Anzeigetafel und die Masse der Leute, die mit ihren Koffern und Taschen zwischen Freßständen und Läden herumwandern.
Er rupft ein Stück aus dem zähen Weck und tunkt Soße damit auf. Schmerzhaft wird der zu große Brocken runtergepreßt, aber es tut gut, etwas drin zu haben. Der Hunger hat ihn regelrecht angesprungen, als er das ganze Zeug hier sehen und riechen mußte. Es gibt fast nur Freßstände: Burger, Pommes, ganze Berge von Obst, Süßigkeiten, Bäcker, eine Fischbude. Als ob fressen das wichtigste wäre, bevor man sich in einen Zug
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