Kürzere Tage
Foyer: Väter mit Pizzakartons. Mütter, die laut in ihre ans Ohr gepreßten Handys reden, drinnen angekommen leiser werden, ihr Gerät wegstecken und verstummen. Eine dickliche alte Frau, die in der einen Hand einen braunen Kunstlederkoffer trägt und in der anderen ein riesiges Plüschtier. Sie kommt zielstrebig auf Judith zu. Das Stofftier, eine dicke Schlange mit weit aufgerissenen Plastikaugen, streckt ihr eine lange pinkfarbene Zunge entgegen, korrekt gespalten und flauschig.
Das Gesicht der Frau ist rot und feucht. Tränen laufen unaufhörlich unter den schmutzigen Brillengläsern hervor, rollen über die feisten Wangen und werden von einem kratzig aussehenden Schal aufgesaugt. »Sie kennet mich, ich bin die Oma vom Mattis. Sie habet ihn und die Hanna hergfahre, gell?« Sie holt ein Papiertaschentuch aus ihrer Jacke und schneuzt sich kräftig. Sie wolle ihren Enkel besuchen, den armen Kerle. Station 12, wie immer. Das Krankenhaus hätte sie angerufen und ihr erzählt, daß die Hanna schuld sei an Mattis’ Krankheiten. Sie habe ihm die ganze Zeit Zeugs gegeben, Gift, Abführmittel, Brechmittel. Sie hätten schon letztes Mal sein Blut untersucht und jetzt gäbe es keinen Zweifel mehr. Die Hanna sei schon immer eine Verdruckste gewesen, sie könne sie jetzt gar nicht sehen. Man hätte sie fortgebracht, in eine andere Klinik. Und womit sie selber das alles verdient habe.
Judith ist froh, daß Mattis’ Großmutter ihre Antwort nicht abwartet. Sie geht mit ihrer Schlange weiter und stellt sich vor den Aufzug, den Judith ohnehin die ganze Zeit im Blick hat. Sie steigt ein und ist verschwunden. Judith zieht die Schultern hoch. Sie fühlt Mitleid und Grausen, ähnlich wie nachKatastrophenmeldungen aus dem Fernsehen. Aber so, wie sie diese durch einen Knopfdruck ausblendet, schließt sie jetzt die Augen, um ein anderes Bild heraufzubeschwören.
Die Kälte draußen tut gut. Sie läßt die Jacke aufgeknöpft und holt die Rothändle heraus. Mit einem tiefen Seufzer stößt sie den Qualm aus, so daß die Raucherin neben ihr verstohlen den Kopf dreht. Aus der Tasche ihrer Jogginghose, die von Zigarettenpäckchen und Feuerzeug ausgebeult wird, schaut ein vielfach gestempelter pinkfarbener Zettel. »Der rosa Essensgutschein und die Pantoffeln, daran erkennst du, wer dazugehört«, hatte Hanna erzählt, fast ein wenig stolz, als ob es sich um die Mitgliedschaft in einem exklusiven Club handele. Die andere Frau drückt ihre Zigarette in dem sandgefüllten Betontrichter aus. Sie nickt Judith zu, schiebt ihren dicken Hintern wieder rein. Ich bin nicht so auseinandergegangen, nach zwei Kindern immer noch dieselbe Kleidergröße. Das kann er sogar unter dieser Vogelscheuchenkluft erkennen.
Trotzdem fragt sie sich, wie Sören wohl reagieren wird, auf ihren Körper mit den silbernen Rißspuren unter dem Bauchnabel, den gesackten Brüsten, dem zarten violetten Netz der Besenreiser an Oberschenkeln und Knöcheln? Sie spiegelt sich in der Scheibe. Das Gesicht ist nicht schlecht, besonders die Augen. Sie haben den betäubten Schafsblick der Mutter, der Klaus-Frau, der Hausfrau verloren und sind wach und erregt. Sie findet Blumendraht in der verdammten Jacke, eine Blechdose mit Kräuterpastillen, aber keinen Lippenstift, nicht einmal Labello. Sie beißt sich auf die Lippen, damit sie röter aussehen, greift nach den Haarklemmen, um die Hand wieder zurückzuziehen.
Die Gartenkleidung kommt ihr vor wie ein Faschingskostüm. Eine Larve, wie es altmodisch heißt. Eine Larve ist auch etwas, aus dem ein Schmetterling sich hervorschälen kann. Wird sie das heute tun, sich herausschälen aus den erdfarbenen Fetzen, wiedas fertige Insekt die braune Chitinhülle abstreift, und etwas Schöneres, Besseres werden? Ein silbrig flimmerndes Lebewesen, das sein Flügelpaar ausspannt, um sich emporzuschwingen. In den betörenden Lichtkreis einer Flamme, die es versengt? In die quetschende Faust eines Unholds? Was will ich sein? Vogelscheuche, Hausfrau, Klausfrau, Mama, breikochend, hinternwischend und fliesenscheuernd? Oder lieber wieder hinaustreten aus dem warmen Mief, hinaus auf die neonweiß umstrahlten Eisgipfel der Hackstraßenlandschaft, wo Wodka und Tequila in klaren Strömen fließen, wo immer künstlich beleuchtete Nacht herrscht und der Tag im Dämmer heruntergerasselter Rolläden verschlafen wird? Wo jede Handlung sich auflöst im Ziel der erwarteten Umarmung, dem Ersticken an Sörens Zunge, dem Begrabensein unter seinem Fleisch, mit dem
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