Kürzere Tage
sein, um Stille zu schaffen, das schneidende Flüstern in ihrem Kopf zu ersticken?
Sie nimmt den Ausgang Christophstraße. Bergauf keuchend passiert sie das Stadtteilhaus Mitte, die Schaukästen mit Ankündigungen: Kinderturnen, Heilung durch Handauflegen. Auf dem Mozart-Platz bleibt sie erneut stehen, um zu verschnaufen. Das Restaurant an der Ecke ist voll. Judith nimmt keine Gesichter wahr, nur die Zufriedenheit derer, die da drinnen sitzen, unbehelligt, angstfrei.
Die Ampel gegenüber dem Altersheim wird sofort grün. Sie eilt über die Straße und hastet an dem hölzernen St. Martin vorbei, der riesig und schartig über dem zusammengekauerten Bettler aufragt und seinen Mantelfetzen zu ihm heruntergleiten läßt.»Wo ist sein Schwert, Mama? Er hat kein Schwert. Womit hat er den Mantel geteilt?« Kilian und Uli bemängeln jedesmal, daß der Heilige, der doch ein Ritter war, keine sichtbare Waffe trägt. Aber sie ist nicht Mama, sondern eine tablettensüchtige Schlampe, aus deren Vergangenheit man eine Mischung aus Porno und Tarantino-Film drehen kann. Die zierliche Aufgeputztheit ihrer Wohnung, nach der sie sich so sehnt, der warme Schein der Lampe über dem Eßtisch, die Blumen in den Fenstern, der winterlich hergerichtete Jahreszeitentisch mit seinen Filzzwergen, kann sich jederzeit auflösen in ein Panoptikum der Abscheulichkeiten. Statt Haferflocken und Grieß schwimmen dann plötzlich blauschwarze Föten in den Gläsern auf den Küchenborden. Blauschwarz an allen Gliedern war Goethe als Baby, und hinter dem Vorhang im Schlafzimmer lauert der wasserköpfige Junge, den Steiner bis zum Abitur gebracht haben will. Sein Grinsen ist tückisch und die hohe Stirn wie eine in Milch aufgequollene Semmel. Judith rennt jetzt die Staffel am oberen Ende der Bopserstraße hoch, sie schluchzt. Es riecht verbrannt, ein starker, kratziger Geruch, der sie husten läßt. Im Laufen versucht sie, andere Bilder herbeizuzwingen.
Uli und Kilian, die Hans-Thoma-Kinder, apfelbackig und blondlockig, ausgeglichen und gesund. Sie sind bei den Posselts, es wird ihnen ein wenig übel sein, aber das ist nicht schlimm. Sie kann es wieder kurieren. Klaus kommt zurück, wie jeden Donnerstagabend. Ein paar Geschichten aus der Uni, leichte, trockene Küsse, die Mundwinkel, Wangen, Stirn treffen. Sie reden über die Kinder. Später ein Rotwein auf dem Sofa, sein Arm liegt um ihre Schulter.
Sie will keine Fragen stellen. Die Glocke, in der sie alle schwingen, in Geborgenheit getragen, von Tag zu Tag, soll keinen Riß bekommen, ihr volles, dunkles Dröhnen verlieren, das taub macht für das Geflüster der Angst.
Klaus liebt die Jungen. Er liebt sie so sehr, daß er auch noch ein weiteres Kind lieben würde. Ein neues, winziges, in gelbbräunliche Wolldecken gehülltes Bündel. Ein Mädchen wäre schön. Sie könnte es Rike nennen, wie bei Mörike: »Schläfst du schon, Rike?« Und Klaus kann wieder die Nabelschnur durchschneiden, mit lachendem, tränenüberströmtem Gesicht, wenn das Kind zwischen ihren weit gespreizten Beinen hervorkommt. Das winzige Kind wird Klaus’ Nächte zerschneiden mit dünnem Gejammer und ihn schwächen, seinen Rücken beugen und seinen Penis schlaff machen. Sie sieht Rikes flaumiges Köpfchen in Klaus’ Armbeuge – eine winzige Frau Venus, die ihren riesigen Tannhäuser fordert, bis er in einem Berg aus Kissen und Schaffellen einschläft, umschwebt von Milchdunst und Wochenfluß, neben Judiths rubinrot gesaugten Brustwarzen. Er wird wie bei Kilian und Ulrich ein hingebungsvoller Vater sein, der jeden Abend zu Hause ist, auch donnerstags.
Wieder versucht sie sich den Ort vorzustellen, an dem diese erlösenden Ereignisse stattfinden sollen. Nur noch wenige Minuten, dann ist sie da, daheim. Daheim, das kann sie mantraartig vor sich hinmurmeln und dabei die Staffel hochkeuchen, vorbei am Büro des Landesbauernverbandes, aus dessen gläsernem Entree eine schwarzweiß lackierte Kuh ihre spitzen Hörner auf sie richtet. Judith sieht wie das Schlangenwegle sich den gegenüberliegenden Hang hochwindet. Die Laternen wachsen aus dem Gestrüpp wie seltsame Pilze und beleuchten die Sackgasse davor, auf der ungewöhnlicher Verkehr herrscht. Autos wenden und rangieren, verschwinden brummend in der Gegenrichtung bergab. Auf der Constantinstraße, die Judith jetzt schwer atmend betritt, ist ein Stau vor einer Reihe von Warnblinkleuchten und rotweiß gestreiften Absperrkegeln. Ein Polizist winkt. Die zuckenden Blaulichter der
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