Küss den Wolf
vor Weihnachten. Das Geschenk hinter dem Türchen zu seinem 24. Dezember war: das Waldgrundstück. Hoffentlich würde das Mädchen seine Handlungsweise akzeptieren! Natürlich würde sie zunächst einmal einen Schreck bekommen, da war er sich sicher. Aber er war sich auch sicher, dass sie ihn so sehr liebte, dass sie ihm diesen kleinen Schachzug irgendwann verzeihen würde. Letztendlich zählte schließlich nur, dass er ihrer über alles geliebten Großmutter half… Den flüchtigen Gedanken daran, dass das Mädchen ihn für diese Tat hassen und sich von ihm trennen könnte, wischte er davon wie eine lästige Fliege, denn er liebte das Mädchen auf seine ganz eigene Weise. Irgendwann würde sie es verstehen… Irgendwann würde sie akzeptieren, dass man manchmal Dinge tun musste, die nicht unbedingt in das Weltbild eines jungen, gutgläubigen Wesens passten. Zugegebenermaßen hatte es Momente in ihrem Zusammensein gegeben, in denen er selbst schwach geworden war. In denen er sich selbst gewünscht hatte, dass es so etwas wie eine heile Märchenwelt gab. Eine Welt mit einer Garantie auf Happy End. Eine Welt, in der alle glücklich bis ans Ende ihrer Tage lebten. Und wenn sie nicht gestorben sind…
Aber ihre Liebe würde nicht sterben, egal was passierte.
Daran musste er glauben, und zwar so fest er konnte.
Außer der Anerkennung seines Vaters wollte er nichts lieber, als für immer mit ihr zusammen zu sein.
Seinem Mädchen mit den glänzenden roten Locken.
Seinem über alles geliebten Rotkäppchen.
48.
Donnerstag, 12. Mai
Der von Leo empfohlene Gutachter arbeitet
für die Firma Lauterbach & Söhne.
Wie viele Beweise brauchst du noch,
um mir endlich zu glauben?
Marc
Ich bereute, das Handy nach der Schule eingeschaltet und die SMS gelesen zu haben. So überfordert wie in den letzten Tagen und Wochen hatte ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt. Morgen würde sich Verena mit dem Geschäftsführer der Firma treffen, die die Kinderheime leitete – wenn es sich denn wirklich um so eine Firma handelte. Sollte ich heute Abend mit ihr reden und ihr von Marcs Verdacht erzählen?
Aber was, wenn das alles nicht stimmte und Marc wirklich nur versuchte, sich wichtig zu machen, den Journalisten und Hobby-Detektiv raushängen ließ und damit Leos Ruf ruinierte? Immerhin hatte ich Marc dabei beobachtet, wie er mit diesem merkwürdigen Typen aus dem Schanzenviertel aneinandergeraten war. Wer weiß, was Marc Jensen in Wahrheit für Dreck am Stecken hatte? Und was, wenn Verena sauer wurde und mir den Umgang mit Leo verbot?
Gedankenverloren schob ich mein Fahrrad die Straße entlang und beschloss, mich zum Nachdenken in mein Lieblingscafé zu setzen, das Leonar am Grindelhof. In diesem jüdischen Café trafen sich vor allem Schriftsteller, Verlagsleute und Journalisten – und außerdem gab es hier sowohl leckeren Kuchen als auch jüdische Spezialitäten wie Hummus. Da heute Abend ausnahmsweise das Maki-Girls-Treffen ausfiel, konnte ich mir dort mit gutem Gewissen etwas zu essen bestellen, denn mir knurrte der Magen. Kaum hatte ich verschiedene Mezze und Tee geordert, fragte plötzlich eine Stimme hinter mir: »Darf ich?« Ich blickte auf und schaute in die schokofarbenen Augen von Marc.
»Ich kann’s dir ja wohl schlecht verbieten«, antwortete ich. Zu meinem eigenen Erstaunen war ich gar nicht so wütend, wie ich eigentlich gedacht hätte. Deshalb schickte ich ein knurriges »Verfolgst du mich?« hinterher. Marc sollte auf gar keinen Fall mitbekommen, dass ich mich irgendwo, ganz tief in meinem Herzen darüber freute, ihn zu sehen. »Ja, tue ich, weil du heute in der Schule alles dafür getan hast, um mir aus dem Weg zu gehen«, antwortete Marc und setzte sich mir gegenüber auf den Polstersessel. »Aber ich lasse so lange nicht locker, bis du mir endlich glaubst.«
»Warum tust du das alles?«, fragte ich und spürte, wie mein Herz immer heftiger klopfte. War das die Aufregung?
Oder lag es an Marcs Nähe?
»Weil mir sehr, sehr viel an dir liegt und ich nicht möchte, dass ihr euer geliebtes Waldgrundstück an einen Kriminellen wie Leo Lauterbach verliert. Der hat nämlich nur eins im Sinn: Er will dort ein Golfhotel für Luxusurlauber bauen und dafür alles niederwalzen, was sich ihm in den Weg stellt. Es wird mit Sicherheit einen anderen Weg geben, um deiner Oma zu helfen. So ein Dach kostet nicht die Welt, wenn man sich nach günstigen Materialien umschaut und Freunde bittet, mit anzupacken. Und ich möchte
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