Küss mich hier und küss mich jetzt (Julia) (German Edition)
nicht immer Angst gemacht? Mit Neuanfängen kannte sie sich aus, sie wusste, wie man sich immer wieder selbst neu erfand.
Das Problem war nur, dass sie bislang nicht gewusst hatte, wer sie selbst eigentlich war. Sophie Greenham war ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Puzzleteilen aus Filmen und Büchern und Eigenschaften anderer Menschen.
Unter Kits kritisch kühlem Blick hatten sich all die Fragmente und Ebenen aufgelöst – zurückgeblieben war ihr wahres Ich.
„Zugestiegene, die Tickets bitte.“
Sie schlug die Augen auf. Ein Schaffner kam auf sie zu. Sie setzte sich auf und kramte nach ihrer Geldbörse.
„Eine Fahrkarte nach London bitte.“
Der Schaffner tippte die Angaben in sein Gerät. „Umsteigen in Newcastle“, sagte er, ohne aufzuschauen. „Der Zug nach London fährt von Bahnsteig zwei. Sie müssen sich ein bisschen beeilen.“
„Danke.“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Könnte ich, bitte, zwei Fahrkarten haben?“
„Begleitet Sie jemand?“
Zum ersten Mal sah der Schaffner sie richtig an. Sein Blick über die randlose Brille schien zu besagen, dass sie wahrscheinlich etwas Verbotenes tat.
„Nein.“ Ihre Stimme klang brüchig. „Nein, ich reise allein. Sagen wir einfach, ich habe noch eine Schuld zu begleichen.“
Der Bahnhof in Alnburgh war, wenig überraschend, leer. Schwer atmend blieb Kit stehen und blickte sich mit wachsender Verzweiflung um. Sophie war nicht da, sie war fort. Für immer.
„Haben Sie den Zug verpasst?“
Kit schaute sich um. Ein Mann in Overall und orangefarbener Warnweste kam auf ihn zu.
„So könnte man sagen. Wann fährt der nächste nach London?“
„London? Die nächste Direktverbindung geht erst wieder morgen früh. Wenn Sie nicht so lange warten möchten, dann müssen Sie über Newcastle fahren.“
Ein Gefühl tiefster Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihm aus. Bis er in London ankam, war Sophie längst über alle Berge. Und er hatte keine Ahnung, wie er sie finden sollte. Es sei denn …
Er wirbelte herum. „Sagten Sie, es gibt nur eine Direktverbindung? Der Zug, der gerade abgefahren ist …“
„War der Regionalzug nach Newcastle.“
„Danke!“
Kit begann zu laufen.
Verwirrt blickte Sophie sich um. Der Bahnhof von Newcastle war ein fantastisches Beispiel für Viktorianisches Design. Unzählige Eisenstreben liefen über ihr zusammen und bildeten einen filigranen Baldachin. Sie kam sich vor, als stände sie im Bauch eines gigantischen Wals.
Abgesehen von dem Krach und den vielen Leuten vielleicht. Das Innere eines Wals stellte sie sich wunderbar ruhig vor. Inmitten der vielen Reisenden, die an ihr vorbei drängten und dabei lauthals in ihre Handys schrien, um die Durchsagen zu übertönen, fühlte sie sich winzig. Unsichtbar.
Es war erst eine gute Woche her, dass eine junge Frau in einem schwarzen Korsettkleid, mit Stilettoabsätzen und einer Was-soll’s-Einstellung in Kings Cross in den Zug gestiegen war. Und jetzt brachte dieselbe Frau es kaum über sich, die gemütliche Bimmelbahn zu verlassen, die sie aus Alnburgh hergebracht hatte. Nach der Stille und dem Platz, den sie in den vergangenen Tagen genossen hatte, kam es ihr nun so vor, als würde die Menschenmenge sie zerquetschen.
Aber der Schaffner hatte gesagt, sie müsste sich beeilen. Sie presste die Tasche fest an ihre Brust und machte sich auf den Weg.
Gleis zwei. Wo war Gleis zwei? Ihr Blick irrte von Ausschilderung zu Ausschilderung. Keine ergab irgendeinen Sinn. Bis auf eine.
Alnburgh.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie kein Heimweh verspürt, vermutlich, weil es kein Zuhause gegeben hatte, nach dem sie sich hatte sehnen können. Jetzt fragte Sophie sich, ob der Kummer, den sie angesichts dieses Wortes empfand, der ihr Inneres auszuhöhlen und ihre Lungen mit Zement zu füllen schien, wohl Heimweh war.
Sie schaute weg. Sie gehörte nicht dorthin – hatte sie sich das in den vergangenen Tagen nicht immer wieder vorgesagt? Das Mädchen aus Nirgendwo, mit dem erfundenen Namen und der erfundenen Geschichte, gehörte nicht in ein Schloss oder zu einer Familie, deren Stammbaum eintausend Jahre zurückreichte.
Wohin gehörte sie dann?
Panik stieg in ihr auf. Mitten in der geschäftigen Bahnhofshalle stehend, überkam sie auf einmal das Gefühl zu fallen. Und es gab nichts, woran sie sich festhalten konnte. Sie drehte sich einmal um sich selbst, verzweifelt auf der Suche nach etwas Vertrautem …
Und dann sah sie ihn.
Er bahnte sich seinen Weg durch die Reisenden,
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