Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
sich.
«Adolphus», flüsterte sie. «Mein kleiner Adolf …»
«Pst!», machte die Wirtin. «Hören Sie? Ich glaube, Ihr Mann kommt.»
Der Arzt öffnete die Tür und blickte in den Korridor hinaus. «Herr Hitler?»
«Ja.»
«Kommen Sie bitte herein.»
Ein schmächtiger Mann in dunkelgrüner Uniform trat leise ins Zimmer und sah sich suchend um.
«Ich gratuliere», sagte der Arzt. «Sie haben einen Sohn.»
Der Mann hatte einen gewaltigen Backenbart nach dem Vorbild des Kaisers Franz Joseph und roch stark nach Bier. «Einen Sohn?»
«Ja.»
«Wie geht’s ihm?»
«Ausgezeichnet. Und Ihrer Frau auch.»
«Gut.» Mit merkwürdig gezierten kleinen Schritten näherte sich der Vater dem Bett seiner Frau. «Nun, Klara», sagte er, durch den Bart lächelnd, «wie war’s denn?» Er beugte sich vor, um das Baby zu betrachten. Er beugte sich tiefer. Mit raschen, ruckartigen Bewegungen beugte er sich immer tiefer, bis sein Gesicht nur noch zehn, zwölf Zoll von dem Kinderköpfchen entfernt war. Die Frau lag daneben und sah mit flehendem Blick zu ihm auf.
«Großartige Lungen hat er», verkündete die Gastwirtsfrau. «Sie hätten sein Geschrei hören sollen. Kaum war er auf der Welt, da brüllte er auch schon los.»
«Aber … mein Gott, Klara …»
«Was ist, Lieber?»
«Der ist ja noch schwächlicher als Otto!»
Der Arzt trat hastig ein paar Schritte vor. «Dem Kind fehlt nichts, gar nichts.»
Langsam richtete sich der Mann auf, wandte den Kopf und sah den Arzt an. Er machte einen verwirrten, ratlosen Eindruck. «Mir brauchen Sie nichts vorzulügen, Herr Doktor», sagte er. «Ich weiß Bescheid. Mit dem wird’s wieder genauso gehen.»
«Jetzt hören Sie mal zu …», begann der Arzt.
«Ja, wissen Sie denn nicht, was mit den anderen passiert ist?»
«Denken Sie nicht mehr an die anderen, Herr Hitler. Sie müssen zuversichtlich sein.»
«Aber so klein und schwächlich …!»
«Mein lieber Herr, es handelt sich um ein Neugeborenes.»
«Trotzdem …»
«Was soll denn das heißen?», empörte sich die Wirtin. «Wollen Sie ihn etwa ins Grab reden?»
«Genug!», sagte der Arzt scharf.
Die Mutter weinte. Heftiges Schluchzen schüttelte ihren Körper.
Der Arzt trat zu dem Mann und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Seien Sie gut zu ihr», flüsterte er. «Bitte. Es ist sehr wichtig.» Er schob ihn mit einem kräftigen Druck auf die Schulter unauffällig an das Bett heran. Der Mann zögerte. Der Arzt drückte stärker, gab ihm mit Fingern und Daumen zu verstehen, was er von ihm erwartete. Schließlich beugte sich der Mann widerstrebend über seine Frau und küsste sie leicht auf die Wange.
«Schon gut, Klara», sagte er. «Hör auf zu weinen.»
«Ich habe so innig gebetet, dass er am Leben bleibt, Alois.»
«Ja.»
«Monatelang bin ich Tag für Tag in die Kirche gegangen und habe die Heilige Jungfrau auf den Knien angefleht, dass sie mir dieses Kind am Leben erhält.»
«Ja, Klara, ich weiß.»
«Drei tote Kinder – mehr kann ich nicht ertragen, verstehst du?»
«Natürlich.»
«Er muss leben, Alois. Er muss , er muss … O Gott, hab Erbarmen mit ihm …»
Edward der Eroberer
Mit einem Geschirrtuch in der Hand trat Louisa aus der Küchentür an der Rückseite des Hauses in den kühlen Oktobersonnenschein hinaus.
«Edward!», rief sie. «Ed-ward! Das Essen ist fertig!» Sie wartete einen Augenblick und lauschte; dann überquerte sie, von einem kleinen Schatten begleitet, den Rasen. Als sie an dem Rosenbeet vorbeikam, strich sie leicht mit dem Finger über die Sonnenuhr. Für eine kleine, untersetzte Frau bewegte sie sich recht anmutig, schritt mit sanft schwingenden Schultern und Armen elastisch aus. Hinter dem Maulbeerbaum erreichte sie den gepflasterten Weg, auf dem sie weiterging, bis sie in die Senkung am Ende des großen Gartens hinabschauen konnte.
«Edward! Essen!»
Jetzt sah sie ihn dort unten am Waldrand, etwa achtzig Schritte entfernt – eine hochgewachsene, schmale Gestalt in Khakihosen und dunkelgrünem Sweater. Er stand neben einem lodernden Feuer und warf mit der Forke Brombeerranken hinein. Der milchige Rauch, der in Wolken aus den orangefarbenen Flammen quoll und über den Garten hinwegtrieb, verbreitete einen herrlichen Geruch nach Herbst und brennendem Laub.
Louisa lief den Abhang hinunter auf ihren Mann zu. Natürlich hätte sie nur noch einmal zu rufen brauchen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber das schöne Feuer zog sie an, lockte sie, dicht heranzutreten,
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