Kuesse niemals deinen Chef
dessen war sie sich sicher.
Und das durfte sie nicht zulassen.
Besonders nicht in dem Moment, als Lucas, noch völlig verschlafen und abwesend wirkend, den Gastraum betrat und direkt auf sie zuschlenderte. Schlagartig war es totenstill in der Gaststube. Jeder wandte ihm den Kopf zu und starrte ihn an, einige versteckt, andere ganz offen voller Neugier und Sensationslust. Dann setzten leises Raunen und Flüstern ein.
Und selbst heute konnte Grace nicht anders, als wieder einmal voller Staunen und aufkeimender Lust seinen athletischen Körper, das markante Gesicht und dieses umwerfend charmante Lächeln zu bewundern, mit dem er sie immer wieder schwach machte. Eine ganze Woche hatte sie in ihrem kleinen Pensionszimmer brennende Begierde und absolute Erfüllung in seinen Armen genossen. Blind und taub für die Welt, als wäre sie allein dazu geboren worden, sich von Lucas Wolfe lieben zu lassen. Dieser Mann war einfach unwiderstehlich, selbst jetzt noch, wo ihre schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit wurden.
Auf einmal fühlte Grace sich von einem warmen, heilenden Strom durchflutet.
Das Schlimmste liegt doch längst hinter mir! Lucas hat die Bilder gesehen, und er wollte mich immer noch!
Er hatte nicht auf sie herabgesehen. Was hatte er sie stattdessen noch gefragt? Warum macht es dir so viel aus, was ignorante Leute von dir denken?
Grace hob stolz das Kinn und lächelte ihrem fantastischen Liebhaber entgegen. Wenn Lucas sich nicht darum scherte, was man über sie und ihn sagte, warum sollte sie sich da so empfindlich zeigen? Dass er die knisternde Atmosphäre um sich herum sehr wohl mitbekam, erkannte sie am mutwilligen Funkeln in seinen blitzenden grünen Augen. Doch sein Habitus war der des nachlässigen Beaus, der seinen Auftritt in der Öffentlichkeit genoss und die unverhohlene Aufmerksamkeit des geneigten Publikums als selbstverständlich erachtete.
Zwar gefiel Grace der echte Lucas besser, doch heute war sie froh und dankbar dafür, dass er seine gewohnte Maske als Schutzschild für sie einsetzte.
„Na, ist es endlich passiert?“, fragte er mit milder Stimme, die in der eintretenden Stille dennoch durch den ganzen Raum zu hallen schien. Er wandte sich um, schaute zuerst in die verblüfften Gesichter der Anwesenden und dann an sich herunter. „Was ist?“, fragte er und wies auf seine Jeans und den Kaschmirpullover, den er unter einer abgewetzten schwarzen Lederjacke trug, „sehe ich heute etwa noch attraktiver aus als sonst?“
Unter dem beifälligen Lachen von allen Seiten wandte er sich wieder Grace zu. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest.
Jeder liebt ihn, dachte sie. Aber wie sollte es auch sonst sein? Mir geht es ja nicht anders.
„Egal, wie du aussiehst, die Presse ist immer an dir interessiert“, versuchte sie sich in einem leichten Ton, „ob du nun Hartington in eine neue, aufregende Zukunft führst oder dich in eine Romanze mit Cinderellas ungeliebter Schwester stürzt.“
Augenblicklich schwand das Lächeln aus seinem Gesicht, und Grace schauderte vor dem kalten Blick. Warum habe ich das nur gesagt?
„Unglücklicherweise habe ich mich selbst schon seit Ewigkeiten satt“, murmelte er so leise, dass nur sie es hören konnte. Dann wischte er die Zeitung mit einer nachlässigen Geste vom Tisch und setzte sich.
„Okay, also auf zum Endspurt!“, verkündete Grace betont munter, nachdem sie sich mehrfach geräuspert hatte. „Sagt mir, wie weit jeder Einzelne ist, was noch aussteht und wo eventuell jemand mit einspringen muss.“
Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie bei sich, während das erste Teammitglied den geforderten Bericht erstattete. Noch bis vor wenigen Minuten war ich überzeugt, gerade die glücklichste, belebendste und magischste Woche meines Lebens hinter mir zu haben. Und jetzt?
Die Woche in Wolfestone war wie in einem schmerzhaft süßen, berauschendem Fiebertraum verflogen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Grace darauf verzichtet, jeden einzelnen Schritt zu planen und zu analysieren. Auch hatte sie nicht länger versucht, sich vor der Vergangenheit zu verstecken.
Sobald sie akzeptiert hatte, was Lucas schon längst wusste – nämlich, dass sie ihn ebenso begehrte wie er sie, ließ sie alle Schranken fallen und lebte einfach.
Die Tage waren zum Bersten vollgestopft mit den verschiedensten Aktivitäten, die alle dazu dienten, Wolfe Manor in die perfekte Location für das hundertjähriges Firmenjubiläum von Hartington zu verwandeln.
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