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Kultur 08: Der Algebraist

Kultur 08: Der Algebraist

Titel: Kultur 08: Der Algebraist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iain Banks
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bei der Sache zu
sein, fiel ihm irgendwann auf, dass er schon seit Minuten ins Leere
starrte und irgendein Bild des Sept, eine Szene des Familienlebens an
sich vorüberziehen ließ, das es nicht mehr gab. Es konnte
auch ein Gespräch sein, das vor Jahrzehnten stattgefunden hatte,
eine damals ganz unwichtige Plauderei, die er längst vergessen
geglaubt hatte. Wieso erinnerte er sich gerade jetzt wieder daran,
nachdem alle fort waren und er sich so weit entfernt in einer fremden
Welt befand?
    Manchmal traten ihm die Tränen in die Augen. Aber das
Schockgel saugte sie behutsam ab.
    Bisweilen dachte er auch wieder an Selbstmord und sehnte sich wie
nach einer verlorenen Liebe oder einer vergangenen Zeit, die ihm lieb
und teuer gewesen war, nach der Willenskraft, der Entschlossenheit,
ein Ende zu machen. Mit einem aufrichtigen Todeswunsch wäre der
Freitod zu einer realistischen Möglichkeit geworden. Doch
stattdessen erschien er ihm so sinnlos und vergeblich wie alles
andere in diesem Leben. Man musste Verlangen nach dem Tod empfinden,
um sich zu töten. Wenn man keine Wünsche, keine
Gefühle, keine Triebe mehr hatte – wenn alles nur noch
Schatten, Gewohnheit war –, wurde der Selbstmord ebenso zur
Unmöglichkeit wie die Liebe.
    Dann und wann schaute er auf von den Büchern und
Schriftrollen, den Filmen und Kristallen, den geritzten Diamantfolien
und den leuchtenden Bildschirmen und Holos und fragte sich, ob das
alles denn irgendeinen Sinn hätte. Die Standardantworten waren
ihm natürlich geläufig: Angehörige aller Spezies und
Untergruppen wünschten sich ein Leben in Behaglichkeit, frei von
Bedrohung. Alle brauchten Energie in irgendeiner Form – direkt
aufgenommen wie etwa das Sonnenlicht, oder eher indirekt wie bei den
Fleischfressern – alle wollten sich fortpflanzen, alle waren
neugierig, alle strebten nach Wissen, nach Ruhm und/oder Erfolg
und/oder nach Reichtum in seinen vielen Ausprägungen, aber
letztlich – wozu? Alle mussten sterben. Auch Unsterbliche
mussten sterben. Sogar die Götter.
    Manch einer hatte sich seinen Glauben, seine religiösen
Überzeugungen bewahrt, selbst in diesen Zeiten des zügellos
wuchernden Individualismus, selbst inmitten eines Universums, das
überdeutlich geprägt war von Gottlosigkeit, von der
Abwesenheit Gottes. Aber er hatte die Erfahrung gemacht, dass auch
die Gläubigen nicht gegen die Verzweiflung gefeit waren, ihr
Glaube war eine Last, selbst wenn sie ihn verleugneten, noch etwas,
das man verlieren und worum man trauern konnte.
    Die Leute machten weiter, kämpften um ihr Leben und
ließen sich auch von Hoffnungslosigkeit und Schmerz nicht davon
abbringen. Niemand wollte sterben, jeder klammerte sich an das Leben,
als wäre es das kostbarste Gut, obwohl es doch immer nur noch
mehr Hoffnungslosigkeit, noch mehr Schmerz brachte und bringen
würde.
    Alle Welt gebärdete sich so, als stünde die Wende
unmittelbar bevor, als wären die schlimmen Zeiten morgen
vorüber, doch das war gewöhnlich ein Irrtum. Das Leben
schleppte sich mühsam weiter. Manchmal entwickelte es sich zum
Besseren, aber oft wurde es schlechter, und am Ende stand immer der
Tod. Und doch tat jeder so, als wäre der Tod die
größte Überraschung – Du meine Güte, wo
kommt der denn auf einmal her? Vielleicht war es sogar am besten, so
damit umzugehen. Vielleicht war es das einzig Vernünftige, so zu
tun, als hätte es nichts gegeben, bevor man selbst das
Bewusstsein erlangte, und als würde auch mit dem eigenen Tod
jegliche Existenz erlöschen, als wäre das ganze Universum
um das eigene individuelle Bewusstsein herum gebaut. Es war eine
Arbeitshypothese, eine nützliche Halbwahrheit.
    Aber ergab sich daraus zwangsläufig, dass die Gier nach Leben
nur einer Illusion entsprang? Während die Wirklichkeit darin
bestand, dass nichts zählte und jeder, der anders dachte, ein
Narr war? Hatte man nur die Wahl zwischen Verzweiflung, der Abkehr
von der Vernunft zu Gunsten eines schwachsinnigen Glaubens und einem
defensiven Solipsismus?
    Valseir hätte dazu vielleicht einen erhellenden Beitrag
leisten können, dachte Fassin. Aber auch er war tot.
    Er sah Oazil an und fragte sich, ob dieser selbsternannte Wanderer
tatsächlich ein Bekannter des toten Schwellen-Choal war, dem
dieses Haus gehört hatte. Oder nur ein Glücksritter, ein
Aufschneider, ein Phantast und Lügner?
    In solche Gedanken versunken und vollauf damit beschäftigt,
die eigene Verzweiflung zu kultivieren, hörte Fassin nur mit
halbem Ohr zu, wie

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